Filmfest Venedig 2019

Gold für den „Joker“

08.09.2019
von  Gunther Baumann, Peter Beddies
Goldener Löwe für „Joker“: Regisseur Todd Phillips (re.) und sein Star Joaquin Phoenix © Katharina Sartena
In Venedig gibt’s wieder einmal Gold für einen potenziellen Oscar-Favoriten. Regisseur Todd Phillips gewann am 7. September für „Joker“, das Comic-Arthaus-Drama mit dem grandiosen Joaquin Phoenix, den Goldenen Löwen der 76. Filmfestspiele am Lido. Bemerkenswert ist auch die Entscheidung der Jury, Roman Polanski für sein Historiendrama „J’accuse“ mit einem Silbernen Löwen zu würdigen. Wegen der juristisch noch immer schwelenden Sex-Affäre Polanskis vor 42 Jahren hatte es im Vorfeld Kritik am Entscheid des Festivals gegeben, den Regisseur in den Wettbewerb einzuladen.  Doch „J’accuse“ ist ein hervorragender Film. Das kann man allerdings nicht über alle der mit Preisen ausgezeichneten Filme sagen – in einem Wettbewerb, in dem große Filmemacher wie Steven Soderbergh, Olivier Assayas oder Atom Egoyan unbelohnt blieben.


Goldener Löwe: Todd Phillips („Joker“)

Kann man machen, muss man aber nicht! Zum einen verwundert es schon, dass eine Jurypräsidentin wie die argentinische Regisseurin Lucrecia Martel – deren eigene Filme ganz schön  sperrig sind – einem Superhelden-Drama wie „Joker“ ihr Votum gegeben hat. Zum anderen gewinnt nach „Shape of Water“ und „Roma“ nun schon zum dritten Mal in Folge ein Film den Wettbewerb von Venedig, der in der kommenden Awards Season in den USA eine große Rolle spielen dürfte. Andere Wettbewerbs-Produktionen, etwa das mutige Beziehungsdrama „Ema“ des Chilenen Pablo Larrain, hätten es mindestens ebenso verdient gehabt, den Goldenen Löwen zu gewinnen. Aber genug gemeckert. „Joker“ ist ein feiner Arthaus-Comic-Film mit einem überragenden Joaquin Phoenix, der dieses Werk um einen psychisch gestörten Menschen souverän schultert. Und Regisseur Todd Phillips hat nach seinen Komödien-Hits wie etwa der „Hangover“-Reihe eindrücklich unter Beweis gestellt, dass er auch im Drama-Fach punkten kann.


 
Silberner Löwe (Großer Preis der Jury): Roman Polanski („J‘accuse“ / „Ein Offizier und ein Spion“)
Dass der Große Preis der Jury (und damit die zweithöchste Auszeichnung  des Festivals) an Roman Polanski geht, ist die markanteste Entscheidung der achtköpfigen Jury um Lucrecia Martel. Denn damit machen die Juroren klar, dass es bei ihren Bewertungen einzig um die Filmkunst geht und nicht um deren Verknüpfung mit privaten Verfehlungen. Der 85-jährige Roman Polanski, der mit Meisterwerken wie „Chinatown“ ebenso in die Filmgeschichte eingehen wird wie mit der Vergewaltigungs-Affäre vor 42 Jahren, hat  im Wettbewerb von Venedig ein ungemein starkes Alterswerk vorgestellt. Sein Gerichtsdrama „J’accuse“ ruft die Affäre Dreyfus in Erinnerung, die Frankreich Ende des 19. Jahrhunderts zu spalten drohte. Betont unaufgeregt und ruhig schildert der Regisseur die historischen Fakten um den jüdischen Offizier Dreyfus, der fälschlicherweise der Spionage bezichtigt wurde. Und der selbst dann noch verurteilt werden sollte, als den Ermittlern der wahre Täter längst bekannt war. „J’accuse“ ist ein Lehrstück über den Umgang der Herrschenden mit dem Recht. Und zugleich eine exzellente Studie darüber, wie stark der Antisemitismus Ende des 19. Jahrhunderts in der französischen Gesellschaft verbreitet war.
 


Silberner Löwe (Beste Regie): Roy Andersson („About Endlessness“)
Entweder man liebt die Filme des alten Schweden Roy Andersson. Oder man steht ihnen ratlos gegenüber. Als Andersson vor fünf Jahren für seinen wunderbar verschrobenen Film „Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach“ den Goldenen Löwen mit nach Hause nehmen durfte, hatte er viele Fans auf seiner Seite. Dieses Mal sieht das ein bisschen anders aus. Denn „About Endlessness“ hat nun überhaupt keine übergreifende Geschichte mehr. Es geht um kurze Szenen wie diese: Zwei Menschen fliegen engelsgleich über das nach dem Zweiten Weltkrieg total zerstörte Köln. Ein Priester verliert seinen Glauben und betrinkt sich mit Messwein. Ein Auto gibt den Geist an einer Straße auf und nichts passiert. Adolf Hitler erscheint in den letzten Tagen seinen Unterstellten im Führerbunker. Was all das soll? Das darf man sich schön selbst zusammenreimen. Einer Gebrauchsanweisung verweigert sich Andersson total. Da der 76-jährige Filmemacher derzeit schwer krank ist - er konnte seinen Silbernen Löwen nicht persönlich entgegennehmen - muss man den Preis wohl auch als einen fürs Lebenswerk ansehen. Aus Sicht der Jury zu verstehen. Aber es hätte aufregendere Filme gegeben, die man mit dem Regie-Preis hätte auszeichnen können.



Coppa Volpi (Beste Darstellerin): Ariane Ascaride („Gloria Mundi“)

Die Französin Ariane Ascaride hat als Hauptdarstellerin im Sozialdrama „Gloria Mundi“, dem neuen Film ihres Ehemanns Robert Guédiguian, einen schweren Stand. Sie ist Sylvie, eine einfache Frau aus dem Volke, die sowohl ideell als auch mit harter Arbeit (als Reinigungskraft) alles daransetzt, um ihre Familie zusammenzuhalten. Was allerdings ein Ding der Unmöglichkeit ist.  Ihr Ehemann und ihr Schwiegersohn verlieren ihre Jobs. Ihre eine Tochter kommt mit der Mutterschaft nicht zurecht. Die andere Tochter und deren Mann beschreiten seltsame Lebenswege. Alles riecht nach Katastrophe, doch Sylvie stemmt sich mit großem Einsatz und riesengroßem Herzen dagegen. Ariane Ascaride spielt ungemein berührend – gegen die Entscheidung der Jury für sie gibt es keinen Einspruch. „Gloria Mundi“ spricht ein ähnliches Publikum an wie die Sozialdramen eines Ken Loach: Im Arthaus-Sektor könnte der Film reüssieren.
 


Coppa Volpi (Bester Darsteller): Luca Marinelli („Martin Eden“)

Der Darstellerpreis für den Italiener Luca Marinelli ist eine fast groteske Entscheidung. Denn der mit großem Abstand beste Schauspieler des Wettbewerbs war – und da könnte nicht einmal die Jury widersprechen, die seinem Film „Joker“ den Goldenen Löwen gab – Joaquin Phoenix. Nach Ansicht vieler Beobachter hätte es Sinn gehabt, dem „Joker“-Darsteller Phoenix die Coppa Volpi zu überreichen und einen anderen Kandidaten für den Goldenen Löwen zu suchen. Doch nun darf sich Luca Marinelli die Schauspiel-Auszeichnung in den Schrank stellen. In „Martin Eden“, der nach Italien verlegten Neuverfilmung des autobiografischen Romans von Jack London, spielt er die Titelfigur: Einen Mann aus kleinen Verhältnissen, der durch die Begegnung mit einem Mädchen aus der Oberschicht das Lesen und den Bildungshunger entdeckt. Und der es in weiterer Folge schafft, seinen Traum von einem Leben als Schriftsteller zu verwirklichen. In Venedig waren die Reaktionen auf „Martin Eden“ und seinen Hauptdarsteller zwiespältig. Während sich das italienische Publikum begeistert zeigte, ließ der spröde Film viele andere Besucher ratlos zurück. Und Luca Marinellis Spiel? Er konzentriert sich darauf, mit ernster Miene sehr ästhetisch in die Kamera zu schauen.   



Spezialpreis der Jury: Franco Maresco („La Mafia non è più quella di una volta“)
Wenn es nicht so traurig wäre, müsste man beim Spezialpreis der Jury von einem schlechten Scherz sprechen. Denn der Mafia-Film „La Mafia non è più quella di una volta“ ist zwar sehr gut ausgedacht, aber handwerklich dürftig umgesetzt. Es geht um die beiden Anti-Mafia-Kämpfer Giovanni Falcone und Paolo Borsellino. 25 Jahre nach ihrer Ermordung fragt sich Regisseur Franco Maresco, warum sich heute niemand mehr im Süden Italiens an die beiden erinnern mag. Und wieso die Mafia zwar da ist, aber keiner über sie redet. In einer Mockumentary geht Maresco auf Spurensuche. Von den 107 Minuten des Films quatscht der Regisseur unfassbare 95 Minuten lang nervtötend selbst ins Mikrofon. Dieser Film mag in Italien seine Berechtigung haben und Freunde finden. Über die Landesgrenzen hinweg wird er es sicher nicht schaffen.
 


Marcello-Mastroianni-Preis (bester Nachwuchs-Darsteller) Toby Wallace („Babyteeth“)

Die Auszeichnung des hochtalentierten Toby Wallace mit dem Mastroianni-Preis ist zugleich eine Verbeugung vor dem emotionalsten Film von Venedig. Die australische Regisseurin Shannon Murphy erzählt in „Babyteeth“ die Geschichte einer lässigen und unkonventionellen Familie, deren Leben von großer Tragik gekennzeichnet ist: Teenie-Töchterchen Milla ist so schwer an Krebs erkrankt, dass es kaum noch Hoffnung auf Heilung gibt. Toby Wallace spielt mit großer Wucht und rabiater Herzlichkeit einen Junkie und Schulabbrecher, den Milla eines Tages zuhause anschleppt. Die Eltern, in jeder Sekunde bestrebt, ihrer kranken Tochter alle Wünsche zu erfüllen, tolerieren den wilden jungen Mann. Allmählich wird Liebe (zwischen Milla und Moses) und Freundschaft (zwischen Mo und den Alten) draus. Doch die Uhr tickt. Ein Happy End ist nicht in Sicht.  


 
Drehbuch-Preis: Yonfan („Cherry Lane No. 7“)
Yonfan, den Gewinner des Drehbuch-Preises, darf man wohl als großen Sieger der Abschluss-Gala am Lido sehen. Voller Enthusiasmus riss der Mann aus Hongkong seine Arme nach oben, stürmte auf die Bühne und hielt eine flammende Rede, die man in Peking nur sehr ungern hören dürfte. Denn Yonfan erzählte davon - wie er es auch in seinem irre schönen Animations-Film tut -, wie er vor vielen Jahrzehnten erlebt hat, dass China versuchte, seinen Einfluss in Hongkong zu vergrößern. Und dass genau das gleiche heute wieder geschieht. Dass die Meinungsfreiheit in Hongkong mit Füßen getreten wird. „Cherry Lane No. 7“ ist ein phantastischer, aus allen Nähten platzender Trickfilm-Traum mit einem tollen Drehbuch. Dem Film ist Erfolg auf der ganzen Welt zu wünschen. Nur in einem bestimmten Land dürfte er keine Chancen haben.
 
Die Preisträger

Wettbewerb
Goldener Löwe: Todd Phillips (USA) für „Joker“
Silberner Löwe (Großer Preis der Jury): Roman Polanski (Frankreich) für „J‘accuse“ („Ein Offizier und ein Spion“)
Silberner Löwe (beste Regie): Roy Andersson (Schweden) für „About Endlessness“
Coppa Volpi (beste Darstellerin): Ariane Ascaride (Frankreich) für „Gloria Mundi“
Coppa Volpi (bester Darsteller): Luca Marinelli (Italien) für „Martin Eden“
Spezialpreis der Jury: Franco Maresco (Italien) für „La Mafia non è più quella di una Volta“ („Die Maria ist nicht länger was sie einmal war“)
Marcello-Mastroianni-Preis (bester Nachwuchs-Darsteller): Toby Wallace (Australien) für „Babyteeth“
Drehbuch-Preis: Yonfan (China) für „Cherry Lane No. 7“

Sektion Orrizonti
Bester Film: Valentyn Vasyanovich (Ukraine) für „Atlantis“
Beste Regie: Théo Court (Spanien) für „Blanco en Blanco“
Spezialpreis der Orrizonti-Jury: Raymund Ribay Gutierrez (Philippinen) für „Verdict“
 
Weitere Auszeichnungen
Goldener Löwe für das Lebenswerk:
Julie Andrews (Großbritannien) und Pedro Almodóvar (Spanien)
Löwe für die Zukunft für den besten Debütfilm: Amja Abu Alala (Sudan) für „You Will Die At 20“
Jaeger-LeCoultre-Award: Costa-Gavras (Griechenland / Frankreich)
Best Virtual Reality Award: Céline Tricart (Frankreich) für „The Key“





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