Berlinale 2021

Spitzenfilme jenseits von Gold und Silber

05.03.2021
von  Peter Beddies, Gunther Baumann
Ganz großes Kino: Tom Schilling und Meret Becker in der Erch-Kästner-Verfilmung „Fabian“ © Berlinale
Es ist eine alte Berlinale-Tradition, dass die Berichterstatter häufig von ganz anderen Filmen schwärmen als die Juroren. Das gilt auch für die FilmClicks-Redaktion. Hier ein erster Blick auf exzellente Berlinale-Filme, die auf keiner Preisträger-Liste stehen – die aber große Chancen haben, das Arthaus-Publikum zu begeistern, falls denn (hoffentlich) die Kinos bald wieder öffnen dürfen.
Fabian oder der Gang vor die Hunde
Genre: Literaturverfilmung / Drama
Regie: Dominik Graf (Deutschland)
Stars: Tom Schilling, Saskia Rosendahl, Albrecht Schuch
Berlinale-Premiere:  Im Wettbewerb um den Goldenen Bären
Dieser atemberaubende Film ist so etwas wie das dunkle Gegenstück zur Serie „Babylon Berlin“. Während in der Serie auch mal gefeiert und ordentlich gelebt wird, schwingt in der Verfilmung von Erich Kästners Roman noch stärker als bei „Babylon“ mit, was 1933 in Deutschland passieren wird. Welche Barbaren an die Macht kommen werden.
Regie-Großmeister Dominik Graf, der sich schon in etlichen Genres ausprobiert hat, besteigt hier mit aller Konsequenz die Zeitmaschine. Zu Beginn geht man als Zuschauer in die U-Bahn von heute in Berlin. Wenige Minuten später kommt man auf der anderen Seite im Jahr 1931 bei Fabian (Tom Schilling brillant wie immer) heraus. Der Mann wird gleich ins fiebrige Nachtleben eintauchen. Er verliebt sich, verliert erst die Arbeit, dann den besten Freund. Und am Ende - das darf man verraten, weil es jeder bei Erich Kästner nachlesen kann – verliert er sein Leben.
„Fabian oder der Gang vor die Hunde“ ist großartig erzählt. Mal splittet sich die Leinwand auf in viele Einzelteile. Dann staunt man ob der vielen Einzelheiten, die sich so echt anfühlen. Und immer wieder - aber überhaupt nicht störend - scheint die Gegenwart durch, zum Beispiel, wenn die Kamera über Stolpersteine (die an ermordete Juden während der Nazi-Diktatur erinnert) streift und uns so daran erinnert, dass sich diese dunklen Zeiten nie wiederholen dürfen.   bed
Kinostart: Noch in diesem Jahr
Publikums-Chancen: Sehr ordentlich
Gesamteindruck: Eindringlicher Dreistünder, der das Jahr 1931 in Berlin mit dem aufziehenden Faschismus atemberaubend ablichtet 

Prima Regie-Debüt: Daniel Brühl mit Aenne Schwarz in „Nebenan“ © Berlinale

Nebenan

Genre: Kiez-Tragikomödie
Regie: Daniel Brühl (Deutschland)
Stars: Daniel Brühl, Peter Kurth, Aenne Schwarz
Berlinale-Premiere:  Im Wettbewerb um den Goldenen Bären
Dass Daniel Brühl einer der ganz besonderen, der richtig guten und auch in Hollywood akzeptierten Schauspieler ist, das weiß man. Die einen wissen es schon seit „Good Bye Lenin“, andere erst seit „Rush“. Aber kann er auch Regie führen? Ja, kann er. Und wie!
In seinem Debüt „Nebenan“ führt sich Brühl selbst als Hauptdarsteller und hat dazu mit Peter Kurth (der dafür den genderneutralen Darsteller-Bären verdient gehabt hätte) noch eine Schauspiel-Wucht an seiner Seite. Die beiden sind umwerfend in diesem Kammerspiel, das sich wie ein Duell anfühlt. 
Daniel Brühl spielt einen - zu Beginn - ekelhaft schleimigen Filmstar, der von Berlin aus auf dem Weg nach London zu einem Vorsprechen für einen dieser hirnlosen Blockbuster ist. Zeit für einen Kaffee in der Eckkneipe hat er noch. Und da sitzt dann sein Nachbar (Kurth), den er nicht kennt. Den er aber kennenlernen wird. Denn der Kerl weiß alles über den Filmstar und tischt ihm das Stück für Stück auf, bis… 
Es geht um Lebenslügen, um Ost und West, um Stadt gegen Land, um Talent gegen pure Behauptung und so weiter. Daniel Brühl, der die Idee für diesen wunderbaren Film hatte (Daniel Kehlmann hat dann ein hinreißendes Drehbuch daraus gemacht), inszeniert diese leise und doch sehr intensive in Corona-Zeiten entstandene Tragikomödie als Hymne auf die Lieblingskneipe an der Ecke und den Ort, an dem man - verdammt noch mal - gern mal wieder wäre.   bed
Kinostart: noch in diesem Jahr
Publikums-Chancen: Sehr gut
Gesamteindruck: Kleiner fieser Film, der harmlos beginnt und dann immer böser wird

Schuld und Sühne: Maryam Moghaddam in „Ballad Of A White Cow“ © Berlinale

Ballad Of A White Cow

Genre: Drama
Regie: Behtash Sanaeeha, Maryam Moghaddam (Iran)
Stars: Maryam Moghaddam, Alireza Sanifar, Avin Purraoufi
Berlinale-Premiere:  Im Wettbewerb um den Goldenen Bären
„Ballad Of A White Cow“ ist ein brillantes und eminent spannendes Schuld-und-Sühne-Drama aus Teheran, das sich von vielen anderen iranischen Filmen markant abhebt: Die repressive Staatsmacht und die strengen Regeln der Religion kommen nur am Rande vor. Diese Geschichte könnte in vielen Teilen der Welt spielen – in all jenen Ländern, in denen noch die Todesstrafe  ausgeführt wird (also zum Beispiel auch in den USA).
Der Plot: Ein Mann wird wegen eines Verbrechens, das er nicht begangen hat, hingerichtet. Als die Justiz erkennt, dass hier ein Fehlurteil vorliegt, bietet sie der Witwe eine dürre Entschuldigung an – und eine bescheidene finanzielle Entschädigung. Was die trauernde Frau, Mina (Maryam Moghaddam), die mit ihrer kleinen taubstummen Tochter ihr Leben neu sortieren muss, natürlich nicht trösten kann.
Wenige Tage später läutet ein fremder Mann, Reza (Alireza Sanifar), an ihrer Tür. Er sagt, er habe den Verstorbenen von früher gekannt, und er schulde ihm noch Geld. Reza drückt der Witwe eine größere Summe in die Hand. Er hilft ihr, günstig eine neue Wohnung zu finden. Und er kümmert sich so herzlich um die Witwe und ihre Tochter, dass Mina schließlich Vertrauen und Zuneigung zu ihm fasst.
Was Mina nicht weiß (das Publikum aber bald erfährt): Reza ist der Richter, der das falsche Todesurteil fällte.  Nun lassen ihm das schlechte Gewissen und der Gram über seinen tödlichen Fehler keine Ruhe mehr. Deshalb wird er zum ruhelosen Schutzengel von Mutter und Tochter. Nur seine Identität verrät er nicht.
Das packend gespielte und inszenierte Drama (Hauptdarstellerin Maryam Moghaddam zeichnet mit ihrem Mann Behtash Sanaeeha auch für Buch und Regie verantwortlich) zieht einen von der ersten Minute an in seinen Bann und eilt einem großen Finale entgegen, in dem es natürlich um die Frage geht, ob Rezas Geheimnis für Mina gelüftet wird. Aber genauso wird das Thema erörtert, ob es möglich ist, eine große Schuld, die jemand auf sich geladen hat, durch gute Taten wieder auszugleichen. Was dies betrifft, können alle Zuschauer ihr eigenes Urteil fällen.   bau
Kinostart: noch kein Termin
Publikums-Chancen: Gut
Gesamteindruck: Kluges und starkes Drama, das vom hohen Standard der iranischen Filmszene zeugt




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