Filmfest Venedig 2019

Ein Königsdrama und ein Löwen-Favorit

03.09.2019
von  Gunther Baumann, Peter Beddies
„The King“: Timothée Chalamet und Joel Edgerton beim Fototermin in Venedig © Filmfest Venedig
Das Filmfest Venedig läuft auf vollen Touren. Timothée Chalamet, Joel Edgerton und Robert Pattinson  beweisen in „The King“, dass sich aus Königsdramen von William Shakespeare ein packender Spielfilm destillieren lässt. Der chinesische Beitrag „Cherry Lane No. 7“ ist der einzige Trickfilm im Wettbewerb – und so gut gelungen, dass er als ernster Anwärter auf den Goldenen Löwen gelten kann.
Ein jugendlicher Monarch: Timothée Chalamet als Henry V. in „The King“ © Filmfest Venedig

The King

Genre: Drama
Regisseur: David Michod (Australien)
Stars: Timothée Chalamet, Joel Edgerton, Robert Pattinson, Ben Mendelsohn, Lily-Rose Depp
Venedig-Premiere: Außer Konkurrenz
 
 „The King“ handelt zu Beginn von einem Prinzen, der nicht König sein will. Der englische Thronfolger Hal (Timothée Chalamet) bevorzugt im 15. Jahrhundert ein anonymes Leben als Zivilist, durch das er sich von seinem väterlichen Mentor und Saufkumpanen Sir John Falstaff (Joel Edgerton) geleiten lässt. Doch als sein Vater Henry IV. (Ben Mendelsohn) stirbt,  muss Hal widerstrebend als King Henry V. den Thron besteigen. Und bald darauf gegen Frankreich in den Krieg ziehen. Ein Konflikt, den er, der Friedensfreund, hasst – aber von seinen Altvorderen geerbt hat.
 
Die Grundlagen für „The King“ stammen von William Shakespeare. Vor allem aus seinen Königsdramen „Heinrich IV.“ (zweiter Teil) und „Heinrich V.“ Der Australier Joel Edgerton, der in Hollywood als Schauspieler („Black Mass“), Regisseur („Boy Erased“) und Autor Furore macht, hat gemeinsam mit Regisseur David Michod das Drehbuch geschrieben. Herausgekommen ist ein Film von Shakespeare’scher Wucht (aber nicht mit Shakespeares Worten), der seine Protagonisten erbarmungslos auf jenen Weg zum Abgrund (oder auch zum Triumph) führt, den sie sich selbst ausgesucht haben.
 
Zu Beginn ist das Drama ein Fest für das erlesene Ensemble. Die ersten Szenen gehören Ben Mendelsohn, der dem zynischen, doch bereits vom nahenden Tod gezeichneten König Henry IV. bebende Intensität verleiht. Hollywood-Liebling Timothée Chalamet lässt den jungen Heinrich V. eine rasche Wandlung vom Luftikus zum Staatenlenker durchmachen.  Der Falstaff von Joel Edgerton ist ein wohllauniger Lebemensch, der aber stets weiß, wann es gilt, Ernst zu machen.
 
Wenn nach langen Dialogszenen Robert Pattinson als Frankreichs  jugendlicher Schlachtenlenker Dauphin auftritt (eine gekonnt überdrehte, fast schon kabarettistische Performance), nähert sich der Film seinen handlungsstarken Höhepunkten.  Nun ist der Krieg zwischen England und Frankreich unausweichlich geworden. Die Briten verschiffen ihre Armee über den Kanal auf den Kontinent.  Auf einem weiten Feld kommt es zur Schlacht von Azincourt, die von den Engländern am 25. Oktober 1415 gewonnen wurde.
 
Zwar kann der Film keine Tausenden Kämpfer aufbieten, aber der Zusammenprall der Truppen ist filmisch auch so höchst eindrucksvoll geraten. Die Kamera gibt aus der Totalen einen guten Überblick über die Aufstellung der Armeen und ist dann beim Gemetzel, das natürlich für zahllose Beteiligte tödlich endet, mittendrin.  Mit seiner fast dokumentarischen Bebilderung des Schreckens ist „The King“ einer jener Filme, die die unendliche Absurdität und die Tragödien des Krieges besonders drastisch vorführen.
 
 So ist „The King“ ein pazifistisch angehauchtes Lehrstück über Krieg und Macht, über Gier und Intrige geworden,  das zwar in weiter Vergangenheit spielt, aber Botschaften transportiert, die auch in der Gegenwart gültig sind. Von ein paar Durchhängern im Mittelteil abgesehen, schuf das Ensemble einen sehr sehenswerten Film.   (bau)
 
Kinostart: Vermutlich keiner. Ab November auf Netflix.
Publikums-Chancen: Hoch
Gesamteindruck: Gelungene Umsetzung von Shakespeare-Königsdramen in einen starken Spielfilm
 
„Cherry Lane No. 7“: Tolle Bilder vom Hongkong der 1960er Jahre © Filmfest Venedig

Cherry Lane No. 7
 
Genre: Animation
Regie: Yon Fan (China)
Stars: keine
Venedig- Premiere: Im Wettbewerb um den Goldenen Löwen 
 
Der Animationsfilm „Cherry Lane No. 7“ beginnt 1967 in Hongkong. Der Student Ziming bekommt von einer Mrs. Yu den Auftrag, ihre Tochter Meiling in Englisch zu unterrichten. Bei seinem ersten Besuch in der Wohnung von Mutter und Tochter in der Cherry Lane No. 7 versetzt ihn aber Meiling. Also unterhält er sich stundenlang mit ihrer Mutter. Beide stellen fest, dass sie auf einer Wellenlänge schwimmen. Sie plaudern stundenlang über Bücher und Filme. Als die Tochter dann endlich nach Hause kommt, beginnt die Unterrichtsstunde und Mrs. Yu begibt sich in ihr Schlafgemach und träumt davon, wie es wäre, eine Affäre mit dem 15 Jahre jüngeren Ziming zu haben.
 
Auch Ziming fühlt sich zu der sehr attraktiven Mrs. Yu hingezogen und beide beginnen, miteinander  ins Kino zu gehen. Dort schauen sie sich immer wieder Filme mit der französischen Schauspielerin Simone Signoret an. Irgendwann passiert es: Ziming küsst Mrs. Yu. Was beide nicht bemerken, Meiling beobachtet die Szene und ist nun eifersüchtig. Denn auch sie hat sich in den sehr gut aussehenden Ziming verliebt.
 
Das klingt im ersten Moment nach einer typischen Dreiecks-Geschichte. Und im Kern ist es das auch. Aber der chinesische Regisseur Yon Fan macht in seinem ersten Trickfilm ein Fest der Sinne daraus, das noch zusätzlichen Genuss bietet, wenn man das klassische französische  Kino erkennt. Oder wenn man mal von Marcel Prousts Jahrhundert-Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ gehört hat. Immer wieder zitiert Yon Fan die Klassiker oder er fügt sie in fantastische Bilderbögen ein.
 
Da fliegt ein Tennisball durch die halbe Stadt und taucht im Naturdschungel unter. Eine Liebesszene ist – für Trickfilme aus dem Nicht-Porno-Bereich – ungewöhnlich offen. Ein Treffen in einer Wohnung, bei der viele Katzen und eine alternde Diva der Peking Oper eine Rolle spielen, wird gar zum optischen Exzess. Bis die Bilder wie in einem Rausch nur noch schwarz-weiß zu sehen sind.
 
„Cherry Lane No. 7“ fängt auch sehr gut den Zeitgeist Ende der 1960er Jahre in Hongkong mit den kommunistenfreundlichen Protesten ein. Aber vor allem ist dieser Film mal wieder ein Trickfilm für Erwachsene, den man mit Staunen sieht und so schnell nicht wieder vergessen wird. Das Filmfestival von Venedig hat einen ersten echten Anwärter auf den Goldenen Löwen.   (bed)
 
Kinostart: noch keinTermin
Publikums-Chancen: in Arthaus-Kinos gut
Gesamteindruck: Umwerfend schönes Sittenbild der Stadt Hongkong Ende der 1960 Jahre und eine schmerzhaft schöne Liebesgeschichte