Filmfest Venedig 2019

Justizdrama und biografischer Thriller

30.08.2019
von  Gunther Baumann, Peter Beddies
Kristen Stewart (2. v. li.) mit dem Team von „Seberg“ beim Fototermin am Lido © Katharina Sartena
Große Namen, aber zwiespältige Eindrücke am dritten Tag des Festivals von Venedig. Regie-Grande Roman Polanski schuf mit „Ein Offizier und ein Spion“ einen höchst eindrucksvollen Film  über den Justizskandal um den jüdischen Offizier Alfred Dreyfus, der Frankreich Ende des 19. Jahrhunderts bis ins Mark erschütterte. Kristen Stewart hingegen kann trotz exzellenten Spiels das Drama „Seberg“ – eine Mischung aus Biografie und Polit-Thriller – nicht retten. Der Film, in dem sie die Filmlegende Jean Seberg porträtiert, wirkt erstaunlich desinteressiert an seiner Titelfigur.
„Seberg“: Kristen Stewart in der Rolle von Filmlegende Jean Seberg © Festival Venedig

Seberg

Genre: Polit-Thriller  / Biografie
Regie: Benedict Andrews (Australien)
Stars: Kristen Stewart, Jack O’Connell, Anthony Mackie, Vince Vaughn, Colm Meaney
Venedig-Premiere: Außer Konkurrenz
 
Der Filmtitel „Seberg“ lässt eine Biografie erwarten, und in der Tat steht Hollywood-Star Jean Seberg (1938 – 1979), gespielt von Kristen Stewart, im Zentrum des Geschehens. Doch anstatt die Kunst und das Seelenleben der schwierigen Schönen zu erkunden, die mit nur 40 Jahren unter ungeklärten Umständen starb, macht Regisseur Benedict Andrews seine Haupt- zur Randfigur.  „Seberg“ ist vor allem eine bittere Abrechnung  mit dem FBI, das in den 1960er Jahren gezielt Bürgerrechtler und Kriegsgegner verfolgte. Jean Seberg wurde durch ihre Unterstützung  der Black-Panther-Bewegung  zum Zielobjekt und Opfer der jenseits aller Gesetze operierenden Gesetzeshüter.
Der Film trug zunächst den Arbeitstitel „Against All Enemies“, und der wäre wohl passender gewesen als das auf den Promi-Bonus spekulierende „Seberg“. Gegen alle Feinde kämpften in den Sechzigern die Truppen des FBI-Chefs J. Edgar Hoover, dem alles suspekt war, was ihm links vorkam. Bei ihren Einsätzen kannten die Agenten kein Pardon: Verwanzte Wohnungen, illegal abgehörte Telefone, gezielt gestreute Gerüchte.
Im Fall von Jean Seberg belieferte das FBI die Klatschpresse mit der Falschmeldung, die  Schauspielerin erwarte ein Kind vom Black-Panther-Aktivisten Hakim Jamal. Die Schlagzeilen führten zum ersten Selbstmordversuch der sensiblen Diva. Seberg überlebte zwar, doch ihr Baby (das nicht von Jamal stammte), starb kurz nach der Geburt.
Jean Seberg, die aus der amerikanischen Provinz stammte, begann ihre Karriere beim Exil-Wiener Otto Preminger in Hollywood  mit Filmen wie „Die heilige Johanna“ oder „Bonjour Trisstesse“. Zum Star wurde die aparte Blondine mit den raspelkurzen Haaren aber in Europa.  Ihr Auftritt in Jean-Luc Godards „Außer Atem“ geriet 1960 zur Sensation. Von nun an pendelte sie zwischen den USA und Frankreich, wo sie den Schriftsteller Romain Gary heiratete.
Der Film von Benedict Andrews  betrachtet seine Titelfigur reichlich desinteressiert von außen. „Seberg“ zeigt, was Jean Seberg tat, aber nicht, warum sie es tat. Die Eigenheiten der unkonventionellen Schönen – ihre Lust auf Affären und Alkohol zum Beispiel,  ihre finanzkräftige Unterstützung linker Organisationen, ihre gelegentlich durchschimmernde Hypersensibilität – werden im Film nur dann thematisiert, wenn sie zur Story über die üblen Taten des FBI passen.
Am meisten kann einem dabei Kristen Stewart leidtun, die sich in der vermeintlichen Traumrolle der Jean Seberg die Seele aus dem Leib spielt. Aber trotz allen Einsatzes schafft sie es mit diesem Drehbuch nicht,  einem ihre Figur irgendwie näherzubringen.
So ist „Seberg“ ein reichlich unbefriedigendes Drama geworden, in dem man pflichtschuldig die Empörung über die Machenschaften  des FBI teilt, doch mit seiner Wissbegier nach Wesen der Titelheldin alleingelassen wird. „Seberg“, der Film über Jean Seberg,  muss erst noch geschrieben werden.   (bau)
 
Kinostart: März 2020
Publikums-Chancen: mäßig
Gesamteindruck: „Seberg“ ist ein Politdrama, das mit seinem Titel, der auf eine Biografie hindeutet, Etikettenschwindel betreibt.   
 
Jean Dujardin (li.) und Louis Garrel in „Ein Offizier und ein Spion“ © Filmfest Venedig

Ein Offizier und ein Spion

Genre: Justizdrama 
Regie: Roman Polanski 
Stars: Jean Dujardin, Louis Garrel, Emmanuelle Seigner, Mathieu Amalric
Venedig- Premiere: Im Wettbewerb um den Goldenen Löwen 
 
Altmeister Roman Polanski behandelt in seinem neuen Film einen historischen Stoff. „Ein Offizier und ein Spion“ beginnt im Jahr 1894 – und da hat die französische Armee ein großes Problem. Militärische Geheimnisse sind an die Deutschen verraten worden. Die Suche führt sehr schnell zu dem jüdischen Offizier Alfred Dreyfus (Louis Garrel), der aus dem Elsass stammt. Ein Schuldiger muss schnell gefunden werden:  Obwohl es etliche Widersprüche gibt, wird Dreyfus zu lebenslanger Haft auf der Teufels-Insel verurteilt.
Zur selben Zeit muss ein gehobener Posten im Geheimdienst neu besetzt werden. Georges Picquart (Jean Dujardin), der schon am Verfahren gegen Dreyfus beteiligt war, übernimmt das neue Amt und bekommt Zugang zu vielen Informationen, die den Prozess gegen den vermeintlichen Verräter betreffen. Stück für Stück findet er heraus, dass mit Dreyfus der Falsche in Haft sitzt. Aber Picquarts Vorgesetzte weisen ihn an, dass nicht weiter untersucht werden darf. Zynisch gesprochen: Der Jude Dreyfus ist genau der Schuldige, den die französische Regierung benötigt hat. 
Roman Polanski - mittlerweile 86 Jahre alt - ist genau der richtige Mann, um diese schon mehrfach verfilmte Geschichte, die Frankreich seinerzeit an den Rand eines Bürgerkrieges trieb, zu erzählen. Schon die Eingangs-Sequenz ist meisterhaft.
Völlig unaufgeregt und mit großen Panoramabildern zeigt Polanski, wie Alfred Dreyfus vor mehreren Tausend Soldaten - während vor den Toren das Volk „Tod dem Juden“ schreit - jedes militärische Rangabzeichen genommen wird. Dreyfus protestiert: „Hier wird ein Unschuldiger degradiert!“
Mehrfach während der kommenden gut zwei Stunden droht die Stimmung zu kippen. Polanski bleibt bei seiner Inszenierung immer betont ruhig. Ihm geht es um die unglaublichen Fakten und was daraus erwächst. Keineswegs um vordergründige Action.
In erster Linie ist „Ein Offizier und ein Spion“ natürlich ein Film über historischen Ereignisse. In diesem Fall mit einem starken Gewicht auf dem Ermittler Picquardt (Dujardin spielt großartig) .Immer wieder stößt dieser Mann an Grenzen. Er begreift nicht, warum Recht nicht Recht sein darf, wenn die Herrschenden etwas anderes anordnen.
„Ein Offizier und ein Spion“ (Originaltitel: „J’accuse“) ist aber auch eine exzellente Studie darüber, wie stark der Antisemitismus Ende des 19. Jahrhunderts in der französischen Gesellschaft verbreitet war. Plötzlich brennen Bücher. In Geschäften werden Fensterscheiben mit Losungen gegen Juden beschmiert.
Das Volk tobt ein ums andere Mal und fordert die Bestrafung von Dreyfus. Nicht, weil er schuldig, sondern weil er Jude ist. Polanski lässt diese für viele Jahrhunderte und bis in die heutige Zeit gültige Beobachtung einfach so stehen. Richtig so! Er schuf einen in Historienfilm, der in unsere heutige Zeit hineinscheint.    (bed)
  
Kinostart: Noch kein Termin
Publikums-Chancen: In Arthäusern sehr gut.
Gesamteindruck: Exzellent erzählte Geschichtsstunde um einen der größten historischen Justiz-Skandale in Frankreich.