Filmfest Venedig 2018

Goldener Löwe für Alfonso Cuarón

08.09.2018
von  Gunther Baumann, Peter Beddies
Favoritensieg in Venedig: Alfonso Cuarón galt seit der Premiere von „Roma“ als Anwärter auf Gold © Katharina Sartena
Der Goldene Löwe von Venedig geht zum zweiten Mal in Folge an einen Filmkünstler aus Mexiko. Star-Regisseur Alfonso Cuarón wurde am 8. September für sein Familiendrama „Roma“ mit dem Hauptpreis des Festivals am Lido ausgezeichnet. Die Jury um Vorjahrssieger Guillermo del Toro und Christoph Waltz setzte auf starke Filme mit viel Publikums-Appeal. Jacques Audiard wurde für den grandiosen Western „The Sisters Brothers“ mit dem  Regie-Preis belohnt. Yorgos Lanthimos gewann den Großen Preis der Jury mit der eminent komischen Royals-Farce „The Favourite“, die obendrein den Preis für die beste Schauspelerin (Olivia Colman) bekam. Bemerkenswert: Zwei der prämierten Filme, „Roma“ und der Coen-Brothers-Western „The Ballad Of Buster Scruggs“ (Drehbuch-Preis) sind Netflix-Produktionen. Auch Österreichs Filmszene hat Anlass zur Freude. Die Wiener Regisseurin Sudabeh Mortezai holte in der Nebenreihe Giornate degli Autori für ihr Migrantinnen-Drama „Joy“ gleich zwei Auszeichnungen.  

Goldener Löwe: Alfonso Cuarón („Roma“).

Das Astronauten-Drama „Gravity“ mit Sandra Bullock und George Clooney brachte Alfonso Cuarón 2014 zwei Oscars ein. Mit seinem neuen Film „Roma“ bewegt sich der Mexikaner nun in die komplette Gegenrichtung: Kein Ausflug ins All, sondern ein Blick zurück ins Mexico City der 1970er Jahre. Keine bunten Farben, sondern betörendes Schwarz-Weiß. Keine großen Stars, sondern Darsteller aus Mexiko, die bei uns unbekannt sind (aber hervorragend spielen). Cuarón erzählt in „Roma“ bedächtig, was ihm in seiner Kindheit widerfuhr. Seine Mutter wird vom Vater verlassen. Die Familie muss sich damit arrangieren. Ohne zwei Haushaltshilfen, die immer mehr in die Familie wachsen, würde überhaupt nichts funktionieren. Nebenbei lässt der Regisseur die politischen Machtkämpfe der Zeit wieder auferstehen. Seinen Figuren folgt Cuaron mit einer bewundernswerten Leichtigkeit. Die Kamera scheint zu schweben. Mal dicht dran an den Figuren, mal mit Abstand – reine Poesie. Die Netflix-Produktion „Roma“ soll im Winter in ausgewählten Kinos auf der großen Leinwand zu sehen sein. Anschließend läuft sie dann im Streaming-Portal.


 
Silberner Löwe (Beste Regie): Jacques Audiard („The Sisters Brothers“).
Die internationalen Journalisten in Venedig brachen in frenetischen Beifall aus, als die Presse-Premiere von „The Sisters Brothers“  endete. Dem französischen Regisseur Jacques Audiard („Ein Prophet“)  gelingt mit diesem blutigen, aber auch sehr schwarzhumorigen Film das Kunststück, im ur-amerikanischen Genre des Westerns neue Maßstäbe zu setzen. Im Zentrum der Story stehen die Auftragskiller und Brüder Eli und Charlie Sisters (John C. Reilly und Joaquin Phoenix), die hinter einem Goldsucher (Riz Ahmed) her sind, diesen jedoch vor der tödlichen Kugel verschonen. Denn er verspricht ihnen eine todsichere Methode, ganz groß am Goldrausch in Kalifornien teilzuhaben. Natürlich wird auch in diesem Western oft nach dem Motto „Erst schießen, dann reden“ gehandelt. Aber zwischendurch gibt’s haarsträubende bis urkomische Momente, die etwas mit giftigen Spinnen, der Kunst des Zähneputzens oder der segensreichen neuen Erfindung der Toilettenspülung (die Story spielt im Jahr 1851) zu tun haben. Was die Darsteller betrifft, spielt John C. Reilly als nachdenklicher Killer mit Herz seine berühmteren Kollegen Joaquin Phoenix und Jake Gyllenhaal geradezu an die Wand.


 
Silberner Löwe (Großer Preis der Jury): Yorgos Lanthimos („The Favourite“).
„The Favourite“ ist eine sehr schrille, raue und witzige Royals-Komödie, die zu Beginn des 18. Jahrhunderts am Hof von Queen Anne spielt. Arthaus-Regisseur und Festival-Liebling Yorgos Lanthimos drehte hier erstmals einen Film fürs große Publikum. Die Story ist mit einem Satz erzählt: Zwei Herzoginnen (Rachel Weisz und Emma Stone), die miteinander verwandt, aber keinesfalls befreundet sind, kämpfen mit allen lauteren und unlauteren Mitteln um die Gunst der Königin (Olivia Colman). Yorgos Lanthimos inszeniert dieses Ränkespiel mit großer Lust und stellenweise sehr drastischen Pointen. Man kann die Machtkämpfe als Ausdruck für die hohen Hürden betrachten, mit denen Frauen konfrontiert werden, wenn sie ihre Stellung in der Gesellschaft verbessern wollen. Man kann „The Favourite“ aber auch als hinreißendes Unterhaltungsstück genießen, in dem drei großartige Schauspielerinnen alle Waffen der Frauen auspacken. 
 
Coppa Volpi (Beste Darstellerin): Olivia Colman („The Favourite“).
Die Engländerin Olivia Colman schickte in ihrer Dankesrede Grüße an ihre Kolleginnen Rachel Weisz und Emma Stone, als sie in Venedig die Coppa Volpi für die beste Schauspielleistung in Empfang nahm. Gewiss wäre weder sie noch irgendjemand anders böse gewesen, hätte die Jury die Auszeichnung auf alle drei Hauptdarstellerinnen der Royals-Komödie „The Favourite“ verteilt. Aber dass Miss Colman den Preis ganz allein bekam, geht durchaus auch in Ordnung. Sie spielt die Königin Anne als naive, extrem launische, herrschsüchtige und nicht besonders schlaue Monarchin, die jederzeit in Tränen oder in einen Tobsuchtsanfall ausbrechen kann. Eine virtuose Meisterleistung.


 
Coppa Volpi (Bester Darsteller): Willem Dafoe („At Eternity’s Gate“).
Vom guten Geist eines Motels mit schwieriger Kundschaft in „The Florida Project“ (Oscar-Nominierung 2018) zum Schurken im Blockbuster „Spider-Man“. Vom Sergeanten im Kriegsfilm „Platoon“ (Oscar-Nominierung 1986) bis zur Hauptrolle in Lars von Triers Schocker „Antichrist“: Willem Dafoe hat in den Jahrzehnten seiner Karriere bewiesen, dass er zu den vielseitigsten Schauspielern des internationalen Kinos gehört. In Julian Schnabels Künstlerdrama „At Eternity’s Gate“ fügt Dafoe seinen vielen Glanzrollen eine weitere hinzu. Er spielt den Maler Vincent van Gogh (1853 – 1890), der bekanntermaßen von seinem späteren Weltruhm nichts hatte, weil er zu Lebzeiten als erfolgloser Außenseiter galt. Der Film konzentriert sich zeitlich auf van Goghs künstlerisch besonders kreative Zeit im südfranzösischen Arles. Willem Dafoes van Gogh ist ein nimmermüder Künstler, der rastlos ein Meisterwerk nach dem anderen auf die Leinwand bannt, während er privat die Aura eines ewigen Verlierers trägt, in dessen Augen nur selten Hoffnung aufblitzt: Bewegend, berührend, gescheit und ganz großes Kino.  


 
Spezialpreis der Jury: Jennifer Kent („The Nightingale“).
Die einzige Regisseurin im Wettbewerb von Venedig wurde mit dem Spezialpreis der Jury geehrt. Jennifer Kent, die vor ein paar Jahren mit „Der Babadook“ einen der besten Horrorfilme der jüngeren Zeit vorgelegt hat, verlässt auch mit dem Schocker „The Nightingale“ die Komfortzone und präsentiert einen knochentrockenen Aussie-Western, der 1825 in Tasmanien spielt. Die junge Witwe Clare ist auf einem Rachefeldzug. Sadistische Soldaten haben sie missbraucht und ihr auf grausame Weise Mann und Kind genommen. Nun schlägt sie sich mit Hilfe eines Ureinwohners durch den Wald, um die Soldaten zu erlegen. Unterwegs wird sie immer wieder von schrecklichen Albträumen heimgesucht. Je näher sie den Soldaten kommt, umso mehr merkt die aus Irland immigrierte Frau, dass sie eine Fremde in Australien und auf Hilfe angewiesen ist. Kent inszeniert ihren Film über Schuld und Liebe erneut als Horrorfilm. Die Gewalt bricht unvermittelt aus in einem tief verstörenden, aber auch sehr berührenden Film.
 
Marcello-Mastroianni-Preis (bester Nachwuchs-Darsteller) Baykali Banambarr („The Nightingale“).
Mit dieser Auszeichnung ist der Jury eine echte Überraschung gelungen. Der Australier Baykali Ganambarr ist in Jennifer Kents „The Nightingale“ in seiner ersten Hauptrolle zu sehen. Er spielt absolut hinreißend den tasmanischen Ureinwohner Billy, der der Hauptfigur Clare (Aisling Franciosi - bekannt aus „Game Of Thrones“) durch den Dschungel hilft und ihr mehr und mehr klar macht, dass er nicht immerzu als „Boy“ angesprochen werden möchte und wie weh es tut, dem alltäglichen Rassismus ausgesetzt zu sein. Baykali spielt das mit einer Ruhe und Hingabe, als wäre er schon ein absolut Erfahrener im Geschäft. Großes Talent, das demnächst bestimmt häufiger zu sehen sein wird.
 
Drehbuch-Preis: Joel & Ethan Coen („The Ballad Of Buster Scruggs“).
Festival-Veteranen wissen es:  Fast jede Festival-Jury langt bei einem Preis mächtig daneben. Und das ist 2018 der Drehbuch-Preis von Venedig für die sonst so hoch verehrten Coen Brothers. Joel & Ethan haben „The Ballad Of Buster Scruggs“ für Netflix als Serie entworfen, die sich um die Mythen des Wilden Westens dreht. In Venedig wurde davon eine Zwei-Stunden-Version gezeigt. Von lustig-brutalen bis zu ermüdend langweiligen Episoden. Dass es ausgerechnet für dieses dramaturgische Stückwerk den Preis fürs beste Drehbuch gibt, kann man nur als Witz bezeichnen. Wenngleich nicht wirklich als guten.

Die Preisträger

Wettbewerb
Goldener Löwe: Alfonso Cuarón (Mexiko) für „Roma“
Silberner Löwe (Beste Regie): Jacques Audiard (Frankreich) für „The Sisters Brothers“
Silberner Löwe (Großer Preis der Jury): Yorgos Lanthimos (Griechenland) für „The Favourite“
Coppa Volpi (Beste Darstellerin): Olivia Colman (Großbritannien) für „The Favourite“
Coppa Volpi (Bester Darsteller): Willem Dafoe (USA) für „At Eternity’s Gate“
Spezialpreis der Jury: Jennifer Kent (Australien) für „The Nightingale“
Marcello-Mastroianni-Preis (bester Nachwuchs-Darsteller): Baykali Ganambarr (Australien) für „The Nightingale“
Drehbuch-Preis: Joel & Ethan Coen (USA) für „The Ballad Of Buster Scruggs“

Sektion Orrizonti
Bester Film: Phuttipong Aroonpheng (Thailand) für „Kraben Rahu“ („Manta Ray“)
Beste Regie: Emir Baigazin (Kasachstan) für „Ozen“ („The River“)
Spezialpreis der Orrizonti-Jury: Mahmut Fazil Coskun (Türkei) für „Anons“ („The Announcement“)
 
Weitere Auszeichnungen
Goldener Löwe für das Lebenswerk:
Vanessa Redgrave (Großbritannien) und David Cronenberg (Kanada)
Löwe für die Zukunft für den besten Debütfilm: Soudade Kaadan (Syrien) für „Yom Adaatou Zouli“ („The Day I Lost My Shadow“)
Jaeger-LeCoultre-Award: Zhang Yimou (China)
Best Virtual Reality Award: Eliza McNitt (USA) for „Spheres“
Hearst Film Award für die beste weibliche Regie und Europe Cinemas Label für den besten europäischen Film in der Nebenreihe Giornate degli Autori: Sudabeh Mortezai (Österreich) für „Joy“