Filmfest Venedig 2018

Geschichten aus dem Wilden Westen und dem alten Europa

03.09.2018
von  Gunther Baumann, Peter Beddies
Oscarreif: John C. Reilly im grandiosen Western „The Sisters Brothers“ © Filmfest Venedig
Eindrucksvolle neue Filme zweier großer Regisseure in Venedig: Der Franzose Jacques Audiard drehte erstmals in Amerika und schuf mit „The Sisters Brothers“ einen Western der Extraklasse. Der Ungar László Nemes lädt in „Sunset“ zu einer Zeitreise zurück ins Jahr 1913 – in jene Epoche also, in der Europa am Rande des Ersten Weltkriegs stand.
The Sisters Brothers
Genre: Western
Regie: Jacques Audiard (Frankreich)
Die Stars: Joaquin Phoenix, John C. Reilly, Jake Gyllenhaal, Riz Ahmed
Venedig-Premiere: Im Wettbewerb um den Goldenen Löwen

 
Jake Gyllenhaal, Joaquin Phoenix, John C. Reilly, Riz Ahmed (v. l.). © Filmfest Venedig

Ein umjubelter Höhepunkt im Programm von Venedig: „The Sisters Brothers“ ist ein rauer, sehr blutiger, aber auch schwarzhumoriger Western, aus dem John C. Reilly als Killer mit Herz herausragt.
Im Zentrum der Story stehen die Brüder Eli und Charlie Sisters (Reilly und Joaquin Phoenix), die Sisters Brothers also, die während einer harten Jugend viele Skrupel verloren haben. Jetzt ziehen sie als skrupellose Mörder durch den Wilden Westen.
Ihr aktueller Auftrag: Sie sollen einen Goldschürfer namens Hermann Warm (Riz Ahmed) töten. Der Detektiv John Morris (Jake Gyllenhaal) ist schon unterwegs, um Mr. Warm für die beiden zu finden. Als alle vier Männer beieinander sind, gelingt es Warm, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen: Er habe als Chemiker eine todsichere Essenz für das Aufspüren von Gold entwickelt. Gemeinsam zieht das Quartett los, um am großen Goldrausch zu profitieren. Die Folgen sind spektakulär.



„The Sisters Brothers“ ist in mehrerlei Hinsicht ein außergewöhnlicher Film.
Erstens haucht er dem dahinsiechenden Genre des Westerns trotz vieler tödlicher Duelle neues Leben ein.
Zweitens markiert er das US-Debüt des französischen Meisterregisseurs Jacques Audiard, der 2015 für das Migrationsdrama „Dämonen und Wunder“ die Goldene Palme von Cannes gewann.
Drittens bedient Audiard alle Regeln der uramerikanischen Kunstform des Westerns, fügt aber viele kritische und komische Momente hinzu, die man nicht unbedingt erwarten würde.
Viertens schließlich treibt Audiard als Regisseur sein Ensemble zur Höchstform an, wobei John C. Reilly (der auch als Produzent hinter dem Projekt steht) seine berühmteren Partner Joaquin Phoenix und Jake Gyllenhaal regelrecht an die Wand spielt.
Natürlich wird auch in diesem Western oft nach dem Motto „Erst schießen, dann reden“ gehandelt. Aber zwischendurch gibt’s haarsträubende bis urkomische Momente, die etwas mit giftigen Spinnen, der Kunst des Zähneputzens oder der segensreichen neuen Erfindung der Toilettenspülung (die Story spielt im Jahr 1851) zu tun haben.
Das schönste an dieser Romanverfilmung - nach dem gleichnamigen Bestseller des Kanadiers Patrick deWitt - ist jedoch die Vielschichtigkeit der Figuren. Zwar entspricht der Charlie Sisters von Joaquin Phoenix als Aufschneider und stets schussbereiter Trunkenbold noch am ehesten dem Western-Klischee. Doch der Eli Sisters von John C. Reilly ist ein reflektierter Zeitgenosse, der sich – wenn die Waffen gerade schweigen – viele Gedanken über die Welt und das Leben macht.
Jake Gyllenhaal legt den Detektiv Morris als urbanen Feingeist an, der im rauen Westen eigentlich völlig falsch am Platz ist. Und Riz Ahmed spielt den Goldsucher Hermann Mann als undurchsichtigen Charmebolzen, bei dem man häufig nicht weiß, ob er nun aufrichtig ist oder lügt.
So wird „The Sisters Borthers“ zur prächtigen Mixtur aus Abenteuer, Spannung, schwarzem Humor und gnadenloser Western-Ballerei. Jacques Audiard hat mit feiner Klinge einen Film voller Überraschungen inszeniert, der bis zur letzten Szene immer neue verblüffende Wendungen bereithält. Die Reaktion in Venedig: Tobender Applaus.   bau
 
Kinostart: Noch kein Termin
Publikumschancen: Hoch
Gesamteindruck: Ein glorioser Western, der auch Nicht-Western-Fans begeistert

„Sunset“: Verrätselter Film über Europa am Rande des Ersten Weltkriegs © Filmfest Venedig

Sunset
Genre: Arthaus-Drama
Regie: Laszlo Nemes (Ungarn)
Die Stars: Keine international bekannten Hauptdarsteller. Susanne Wuest („Ich seh, ich seh“) hat einen Kurzauftritt als österreichische Prinzessin
Venedig-Premiere: Im Wettbewerb um den Goldenen Löwen

Mit seinem letzten Film ist der Ungar László Nemes über Nacht zum Arthaus-Star aufgestiegen. Das erschütternde KZ-Drama „Son Of Saul“ wurde 2015 in Cannes prämiert und marschierte dann durch bis zum Oscar für den besten fremdsprachigen Film. Einen ähnlichen Weg könnte nun auch sein neues Werk „Sunset“ nehmen.
Das Drama spielt 1913 in Budapest. Die junge Irisz Leiter (Juli Jakab - hat auch in „Son Of Saul“ mitgespielt) kommt in die Stadt. Sie hat eine zweieinhalbstündige Filmreise vor sich, die Freunde von Kinorätseln entweder begeistern oder ratlos zurücklassen dürfte. Die Kamera bleibt - ein Markenzeichen von Nemes, während des gesamten Films ganz nah an der Hauptfigur Irisz dran.
Irisz Leiter steuert sofort das beste Hutgeschäft der Stadt an, das früher mal ihren Eltern gehört hat. Man begegnet ihr dort nicht unfreundlich. Aber als sie nach einer Anstellung fragt, wird sie abgewiesen.
Noch bevor sie die Stadt verlassen kann, erfährt sie von einem Familiengeheimnis. Irisz, die nach dem frühen Tod der Eltern in einem Heim aufwuchs, hat offenbar einen Bruder. Aber einen ganz speziellen. Denn überall flüstert man seinen Namen entweder voller Respekt oder mit angsterfüllter Stimme.
Die junge Dame bekommt - wie man es aus Krimis kennt - einen Hinweis nach dem nächsten, wo der Bruder sich aufhalten könnte. Aber will der sie sehen? Ja, gibt es ihn überhaupt?
László Nemes hat mit „Sunset“ einen Film für den geduldigen Kinogänger gedreht. Einen Film, der opulent ausgestattet ist und der mit einer wunderbar geheimnisvollen Hauptdarstellerin lockt.
Zugleich ist „Sunset“ aber auch ein verrätseltes Drama, das am Ende etliche Fragen offenlässt. All die Andeutungen und Ereignisse auf der Leinwand ranken sich um die Zeitenwende in Europa am Rande des Ersten Weltkrieges. So kann dieses Werk als eine faszinierende Schnitzeljagd gesehen werden oder als eine Parabel aufs Weltgeschehen, über die man stundenlang reden kann.   bed

Kinostart: Februar 2019
Publikums-Chancen: im Arthaus ganz gut
Gesamteindruck: Sehr verkopfter, aber auch angenehm verrätselter Film über Europa vor dem Ersten Weltkrieg