Filmfest Venedig 2018

Horror, Western und Literatur

02.09.2018
von  Peter Beddies, Gunther Baumann
Mit einem Western-Projekt in Venedig: Ethan (li.) und Joel Coen © Katharina Sartena
Das Filmfest Venedig lädt zum Kinogenuss à la carte. Wer kunstvollen Grusel mag, kann bei „Suspiria“ mit Dakota Johnson und Tilda Swinton zugreifen. Die Coen Brothers entführen das Publikum mit „The Ballad Of Buster Scruggs“ auf etwas sonderbare Art in den Wilden Westen. Und Literaturfreunde werden mit der Verfilmung von Elena Ferrantes Weltbestseller „Meine geniale Freundin“ bestens bedient. Letztere zwei Produktionen liefern übrigens einen Hinweis auf den Wandel in der Medienwelt. Sie wurden nicht fürs Kino, sondern fürs Fernsehen gedreht.
Kunstvolle Choreographien zum Gruseln: Arthaus-Horror „Suspiria“ © Alessio Bolzoni

Suspiria
Genre: Arthaus-Horror
Regie: Luca Guadagnino (Italien)
Die Stars: Dakota Johnson, Tilda Swinton, Angela Winkler
Venedig-Premiere: Im Wettbewerb um den Goldenen Löwen
Die Erwartungen an Regisseur Luca Guadagnino waren in Venedig ziemlich hoch. Hatte er doch im letzten Jahr mit der Liebesgeschichte „Call Me By Your Name“ viele Kinogänger in Verzücken versetzt. Mit „Suspiria“ dürfte sich das nicht wiederholen. Bei der ersten Vorstellung am Lido hielten sich Buhs und Beifall die Waage. 
Das Original von „Suspiria“ hat einen legendären Ruf. Dario Argento schuf vor 41  Jahren ein Horror-Kunstwerk, das in vielen Ländern bis vor kurzem auf dem Index stand. Der Film erzählt von einer jungen amerikanischen Tänzerin, die nach Freiburg im Breisgau kommt und dort mit dem Treiben von uralten Hexen konfrontiert wird.

Roter Teppich: Luca Guadagnino mit Tilda Swinton (l.) und Dakota Johnson © Katharina Sartena

Luca Guadagnino verlegt sein Remake - eine gute Entscheidung - ins West-Berlin des Jahres 1977. Susie Bannion (Dakota Johnson) kommt aus Amerika an ein Tanz-Ensemble in der geteilten Stadt. Dort wird sie gleich bei der ersten Probe von der künstlerischen Leiterin Madame Blanc (Tilda Swinton) beobachtet, die ihr außergewöhnliches Talent bemerkt und fördert.
Dass sich in diesem Hause sehr eigenartige Dinge zutragen – es gibt geheime Räume, es verschwinden Tänzerinnen  - scheint die extrem engagierte Susie nicht zu stören. Doch als ein alter Psychotherapeut ein rätselhaftes Tagebuch von einer der verschwundenen Tänzerinnen in die Hand bekommt und zu ermitteln beginnt, wird der Krieg um die Vorherrschaft innerhalb der Hexen-Sippe zur Bedrohung für alle. 
Das neue „Suspiria“ hat im Vergleich zum Original  einen großen Vorteil. Luca Guadagnino ist im Gegensatz zu Dario Argento ein Geschichtenerzähler. Während es bei Argento in all seinen Filmen immer um Stil und Effekt ging, bettet Guadagnino seine bewusst gesetzten Effekte in eine große Geschichte ein.
Auch wenn man beim besten Willen bis zum Ende nicht alles versteht, stellt er das Treiben der alten Hexen doch in einen großen Kontext: Nazis und Rote Armee Fraktion und okkulter Wahn. Man fühlt sich ein wenig an die ausgezeichnete Netflix-Serie „Dark“ erinnert: Alles hängt mit allem zusammen. Und - was die Horror-Fans begeistern dürfte - es gibt sogar eine Post-Credit-Scene. 
Die Schauspieler, allen voran Dakota Johnson und Tilda Swinton, leisten Großartiges als Tänzer. Sie brillieren besonders in drei Szenen, die von Sasha Waltz choreografiert wurden. In der ersten wird jemand beinahe zu Tode getanzt. Auch Deutschlands Film- und Bühnen-Star Angela Winkler als eine der Hexen spielt wunderbar abgründig.
Am Ende huldigt Guadagnino dem Schöpfer der Vorlage, in dem er eine Szene komplett in Rot einfärbt und damit den reichlichen Blutverlust noch drastischer erscheinen lässt. Das Einzige, was man dem Regisseur ankreiden könnte: Er lässt sich mit der Geschichte sehr viel Zeit. Aber beim Spannungsaufbau hilft die sehr gute Filmmusik von Radiohead-Sänger Thom Yorke.
In Summe: Ein mehr als würdiges Remake, auch wenn das, wie eingangs erwähnt, nicht alle Venedig-Besucher so sehen.   bed
Kinostart: 15. November 2018
Publikums-Chancen: Potenzieller Arthaus-Hit.
Gesamteindruck: Sehr atmosphärischer Horror, der sich viel Zeit lässt und erst am Ende die Grusel-Fans zufriedenstellen dürfte.

 
Wilder Westen im Coen-Stil: „The Ballad Of Buster Scruggs“ © Filmfest Venedig

The Ballad Of Buster Scruggs
Genre: Western (TV-Serie)
Regie: Joel & Ethan Coen (USA)
Die Stars: Tom Waits, Liam Neeson, James Franco
Venedig-Premiere: Im Wettbewerb um den Goldenen Löwen
Die Coen-Brüder können Western inszenieren; gar keine Frage. „True Grit“, 2011 für zehn Oscars nominiert,  war ein großartiger Film. Aber was Joel & Ethan Coen jetzt in „The Ballad Of Buster Scruggs“ für den Streaming-Dienst Netflix zusammengetragen haben bzw. was davon beim Filmfest Venedig zu sehen war, das hat nur Kopfschütteln hervorgerufen.  
Eigentlich ist „The Ballad Of Buster Scruggs“ eine Serie, die für Netflix geplant wurde. In mehreren Kurzgeschichten geht’s um die Gründerzeiten der USA; wie das Land zu dem wurde, was es heute ist. Für die Filmfestspiele von Venedig haben die Regie-Brüder sechs TV-Folgen auf zwei Stunden Kinofilm reduziert. Das ist manchmal kurzweilig, hin und wieder auch langatmig. Man sieht großartige Bilder. Aber die Qualität der einzelnen Episoden ist sehr unterschiedlich.
Jede der bis zu 30 Minuten langen Geschichten beginnt mit einem liebevollen Blick auf ein altes Buch. Gleich die erste Wild-West-Story, die leider nicht den Ton für alle Episoden vorgibt, erzählt vom singenden Cowboy Buster Scruggs (Tim Blake Nelson). In typischer tiefschwarzer Coen-Art berichtet der Mann, dass er stets alle Duelle gewinnt und zum Teil auch schon mal jeden Finger des Gegners einzeln abschießt. Dann kommt aber doch einmal ein Kontrahent, der schneller ist als er und der Buster - mit einem Lied auf den Lippen und Flügeln an der Schulter - in den Himmel schickt.
Später lernt der Zuschauer einen stimmgewaltigen Goldsucher (Paraderolle für Tom Waits) kennen. Man quält sich durch eine Episode, in der ein bein- und armloser Mensch jeden Abend Lincoln zitiert. James Franco scheitert daran, eine Bank auszurauben. Und so weiter. Es wird viel gestorben in diesen kurzen Filmchen, die alle an einem Punkt - scheinbar willkürlich - aufhören. Vielleicht erklärt die gesamte Serie etwas besser, was die Coens eigentlich vorhatten.   bed
Kinostart: Keiner. „Buster Scruggs“ läuft ab Mitte November bei Netflix.
Publikums-Chancen: Nicht besonders hoch, da der Film nur eine lose Sammlung von Kurzfilmen ist.
Gesamteindruck: Ultrabrutale und manchmal auch komische Serie über das Leben im Wilden Westen.
 
Kongeniale Bestseller-Verfilmung: „Meine geniale Freundin“ © Eduardo Castaldo

Meine geniale Freundin
Genre: Drama (TV-Serie)
Regie: Saverio Costanzo (Italien)
Die Stars: Keine bekannten Schauspieler – der Star ist die Autorin der Romanvorlage, Elena Ferrante
Venedig-Premiere: Außer Konkurrenz
„Meine geniale Freundin“ ist erstens die Verfilmung des gleichnamigen Weltbestsellers von Elena Ferrante und zweitens kein Kinofilm, sondern eine TV-Produktion. Die italienische Rai und das US-Studio HBO machen eine achtteilige Serie aus dem Roman. Sollten alle vier Bände der „Neapolitanischen Saga“ verfilmt werden, so könnte das Gesamtprojekt auf 32 Folgen anwachsen. 
Das Filmfest Venedig zeigte nun die ersten zwei Folgen in einem Zwei-Stunden-Programm. Die Story beginnt mit einem Prolog. Als die Sechzigerin Elena Greco erfährt, dass Lila, ihre beste Freundin seit Kindheitstagen, spurlos verschwunden ist, beschließt sie, die gemeinsame Geschichte der beiden Mädchen niederzuschreiben.
Die Leser von „Meine geniale Freundin“ wissen, wie es weitergeht. Die Mädchen lernen einander um 1950 an einer Volksschule in Neapel kennen. Die kleine Elena, hochbegabt und brav, bewundert aus der Ferne die glutäugige Lila, ebenfalls hochbegabt, aber wild und unzähmbar.
Bald werden die Erstklässlerinnen aus den Armenvierteln der Stadt zu engen Gefährtinnen. Sie leiden gemeinsam unter dem Regime ihrer autoritären, wenn auch wohlmeinenden Lehrerin. Sie erleben kleine und größere Abenteuer, die stets von der furchtlosen Lisa ausgeheckt werden. Und sie ertragen jede für sich ein Familienleben, in dem bittere Armut auf brutale Strenge trifft. Beide Mädchen wissen, was Schläge bedeuten. Und sie ahnen von klein auf, dass sie es angesichts dieser Verhältnisse einmal schwer haben könnten, dass ihre Begabungen durch eine gute Schulbildung gefördert wird.
Diese Erzählung zweier Kindheiten wird in der Verfilmung zum großen Erlebnis typisch italienischer Prägung. Man sitzt fasziniert in einem Orkan der Emotionen, in dem die erwachsenen Protagonisten ihren Gefühlen stets freien Lauf lassen und lachend oder keifend, zärtlich oder brutal, aufrichtig oder berechnend miteinander umgehen. Die neapolitanische Szenerie atmet einerseits krassen Realismus, hat zugleich aber die Atmosphäre einer Zauberwelt, in der gute und böse Magier nebeneinander aktiv sind.
Elena und Lisa sind aufmerksame Beobachter dieser Welt, in der sie rasch lernen müssen, sich zu adaptieren, indem sie mal mit dem und mal gegen den Strom schwimmen.
Als Zuschauer wiederum beobachtet man gebannt das Spiel der beiden blutjungen Darstellerinnen Elisa Del Genio (Elena) und Ludovica Nasti (Lisa). Regisseur Saverio Costanzo hat hier zwei außergewöhnliche Talente gefunden. „Meine geniale Freundin“ ist ein Film für Erwachsene, der mühelos von zwei Kinderdarstellerinnen getragen wird. Die zwei Stunden der ersten Serien-Folgen sind ein Erlebnis, das vor allem eines auslöst: Lust auf mehr.   bau    
 
Kinostart: Keiner, da TV-Serie. Die Ausstrahlungstermine auf Deutsch sind noch offen. 
Publikums-Chancen: Sehr hoch.
Gesamteindruck: Wunderbar gelungene Bestseller-Verfilmung über zwei bewegende Kindheiten in Italien.