Filmfest Venedig 2015

„Desde Allá“: Gold für einen Außenseiter

12.09.2015
von  Gunther Baumann
Rundum glücklich: Lorenzo Vigas, der Gewinner des Goldenen Löwen, mit seinem Preis © LaBiennale
Diesen Sieger hatte kaum jemand auf der Rechnung. Regisseur Lorenzo Vigas aus Venezuela gewann am 12. September mit dem Homosexuellen- Drama „Desde Allá“ den Goldenen Löwen der Filmfestspiele von Venedig. Auch der Silberne Löwe für die beste Regie übersiedelt nach Südamerika. Pablo Trapero, Argentinien, holte die Auszeichnung mit den Thriller-Drama „El Clan“. Die Jury um Oscar-Preisträger Alfonso Cuarón prämierte vornehmlich kleine Produktionen aus dem Arthaus-Sektor. Viele Filme, die während des Festivals Schlagzeilen machten, gingen leer aus. Zu dieser Kategorie zählen Tom Hoopers Transgender-Drama „The Danish Girl“,  Jerzy Skolimowskis atemloser Thriller „11 Minutes“ sowie die famosen Film-Essays „Frankofonia“ (von Aleksander Sokurov) und „Heart Of A Dog“ (von Laurie Anderson).
Der Siegerfilm: Luis Silva in „Desde Allá“ © LaBiennale

Goldener Löwe: Lorenzo Vigas („Desde Allá“).
Der Siegerfilm des 72. Festivals am Lido ist ein sehr privates Drama ohne größere politische oder gesellschaftliche Bezüge. Im Mittelpunkt steht ein nicht mehr ganz junger Mann namens Armando (Alfredo Castro), der  auf den Straßen von Caracas die Dienste von Strichjungen einkauft. Er will aber keinen Sex mit ihnen – es genügt ihm, die Boys zu beobachten, während er onaniert. Einer der Jungs (Luis Silva) macht bei diesem Spiel nicht mit. Er schlägt den Alten nieder und bestiehlt ihn. Doch gerade zwischen Armando und dem aufbrausenden jungen Elder entwickelt sich dann eine sehr eigenartige Beziehung, in der Elder dem Alten näher kommt, als es ihm gut tut. Im Produktionsteam von „Desde Allá“ finden sich einige Größen des lateinamerikanischen Kinos, wie der Autor Guillermo Arriaga („21 Gramm“)  und der Schauspieler Edgar Ramirez („Carlos“). Die Kinochancen des Films dürften bei uns aber auf den inneren Zirkel des Arthaus-Publikums beschränkt sein.

„El Clan“: Vater und Sohn als Entführer © La Biennale

Silberner Löwe für die beste Regie: Pablo Trapero („El Clan“). Eine wahre Geschichte von Entführung und Mord, die vor dem Hintergrund der 1983 endenden Militärdiktatur in Argentinien spielt: Der Thriller „El Clan“ verrührt sehr grelle Zutaten zu einem fesselnden Dokudrama. Es geht um die Story des Puccio-Clans, einer einst angesehenen Familie aus Buenos Aires. Der Vater hatte gute Kontakte zum Militärregime der Obristen, sein Sohn war ein Rugby-Star. Doch beide vermissten offenbar den Thrill im Leben: Gemeinsam mit anderen Familienmitgliedern entführten sie wohlhabende Bürger. Sie kassierten das Lösegeld, brachten aber aus Angst vor Entdeckung einige ihrer Opfer um. Als die Sache aufflog, nutzten den Puccios auch ihre Beziehungen nichts mehr. Sie wurden zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt. „El Clan“ ist so wie „Desde Alla“ ein Fall für die Filmkunstkinos, allerdings bedeutend publikumsfreundlicher als der Siegerfilm.

„Anomalisa“: Trickfilm für Erwachsene in Stop-Motion-Technik © LaBiennale

Großer Preis der Jury: Charlie Kaufman & Duke Johnson („Anomalisa“). Oscar-Preisträger Charlie Kaufman wurde als Autor von „Being John Malkovich“ weltberühmt. Jetzt hat er mit Duke Johnson einen Trickfilm in Stop-Motion-Technik gedreht, der definitiv nicht kindertauglich ist. Es geht um Beziehungen, um Trennungen und sehr explizit auch um Sex. „Anomalisa“ begleitet einen erfolgreichen, aber vom Leben schwer gelangweilten Autor von Fachliteratur auf einer Dienstreise. Im Lauf des Trips begegnet dieser Mann, Michael Stone, einer gewissen Lisa, die sein Interesse weckt. So sehr, dass er kurzfristig sogar seine Familie für sie verlassen will. „Anomalisa“ ist ein eigenwilliges und sehr pointiertes Kino-Erlebnis geworden, im typischen, leicht verschrobenen Charlie-Kaufman-Stil. So haben zum Beispiel alle Menschen, denen der Protagonist Michael Stone (gesprochen von David Thewlis) begegnet, die gleiche, monotone männliche Stimme. Nur Lisa klingt zwischendurch weiblich (Stimme: Jennifer Jason Leigh). Zumindest, so lange sie für Stone das Objekt der Begierde ist. Nach dem Verfliegen des Rauschs klingt auch sie wieder wie ein Mann. Fazit: Ein feines Kino-Erlebnis, das ein angemessen großes Publikum finden sollte.   

„Abluka“: Ein politischer Albtraum aus Istanbul © LaBiennale

Spezialpreis der Jury: Emin Alper („Abluka“/„Frenzy“). Dieser türkische Beitrag ist ein politischer Albtraum aus den tristen Vorstädten von Istanbul. Ein Häftling namens Kadir wird nach langer Haft auf Bewährung entlassen. Bedingung: Er muss bei der Müllabfuhr arbeiten, wo er die Bürger auf Terrorverdacht ausspionieren und Metallgegenstände auf Bombenverdacht untersuchen soll. Dummerweise legt ausgerechnet Kadirs jüngerer Bruder Ahmet ein so exzentrisches Verhalten an den Tag, dass er den Verdacht der Müllmanns erregt. „Abluka“ zeichnet ein sehr düsteres Bild von Istanbul und der in der Türkei grassierenden politischen Gewalt. Allerdings verstricken sich die Protagonisten in so groteske Visionen, dass man irgendwann den Faden verliert, wo die Realität endet und der Albtraum beginnt. Was den Kino-Chancen des Werks nicht eben zuträglich ist.

Beste Darstellerin: Valeria Golino in „Per Amor Vostro“ © LaBiennale
                                          
Coppa Volpi für die beste Darstellerin: Valeria Golino („Per Amor Vostro“).  Es ist eine sorgsam gepflegte Tradition der Filmfestspiele Venedig, dass einer der Wettbewerbs-Preise in der Regel in Italien bleibt.  In diesem Jahr ist dies die Auszeichnung für die beste Schauspielerin. Valeria Golino spielt die Hauptfigur in Giuseppe Gaudinos Neapel-Frauendrama „Per Amor Vostro“. Ob der Film den Weg in unsere Kinos findet, muss sich erst zeigen.

Bester Darsteller: Fabrice Luchini in „L'Hermine“ © LaBiennale

Coppa Volpi für den besten Darsteller: Fabrice Luchini („L’Hermine“). Fabrice Luchini, zuletzt in „Gemma Bovery“ und in „Molière auf dem Fahrrad“ zu sehen, gehört seit Jahrzehnten zu den großen Stars des französischen Kinos. Im neuen Film von Autor/Regisseur Christian Vincent (er wurde für „L’Hermine" in Venedig mit dem Preis für das beste Drehbuch ausgezeichnet), spielt er einen für seine Schärfe berüchtigten Strafrichter, der in einem Mordprozess leicht aus der Bahn geworfen wird: Unter den Geschworenen entdeckt er eine Frau, in die er vor Jahren heimlich, aber äußerst heftig verliebt war. Bei den  Freunden des französischen Films  könnte „L’Hermine“ ein Hit werden.

Bester Jung-Mime: Abraham Atta in „Beasts of no Nation“ (li., mit Idris Elba) © LaBiennale

Marcello-Mastroianni-Preis für den besten jungen Darsteller: Abraham Attah („Beasts of no Nation“). Abraham Attah ist ein sehr junger Schauspieler aus Afrika, der im Kriegsdrama „Beasts of no Nation“, seinem ersten Film, äußerst eindrucksvoll einen neunjährigen Kindersoldaten spielt. Die Auszeichnung mit dem Mastroianni-Preis ist daher, was Attah betrifft, völlig richtig – wirkt aber, was den ganzen Film anbelangt, wie ein obskurer Trostpreis. Denn „Beasts of no Nation“ (mit Idris Elba als furiosem und furchterregendem Warlord) ist einer der mitreißendsten Filme des Festivals, in dem es Regisseur Cary Fukunaga gelingt, die Auslöser und die Folgen von kriegerischer Gewalt in Afrika aufzuzeigen. Ginge es nach der FilmClicks-Jury, wäre „Beasts of no Nation“ ein Hauptfavorit für den Goldenen Löwen gewesen (neben dem gänzlich unbelohnten Film-Feuilleton „Heart of a Dog“ von Laurie Anderson). Von allen Filmen des Venedig-Wettbewerbs ist „Beasts“ jener mit dem größten Publikums-Potenzial. Das sieht man auch bei Netflix so: „Beasts“ ist eine Netflix-Produktion. Ab Mitte Oktober wird man das Drama dort per Streaming abrufen können.
 
72. Filmfestspiele Venedig 2015
Die Preisträger

Wettbewerb

Goldener Löwe: Lorenzo Vigas (Venezuela) für „Desde Allá“
Silberner Löwe (beste Regie): Pablo Trapero (Argentinien) für „El Clan“
Großer Preis der Jury: Charlie Kaufman &  Duke Johnson (USA) für „Anomalisa“
Spezialpreis der Jury: Emin Alper (Türkei) für „Abluka (Frenzy)“
Coppa Volpi (bester Darsteller): Fabrice Luchini (Frankreich) für „L‘Hermine“
Coppa Volpi (beste Darstellerin): Valeria Golino (Italien) für „Per Amor Vostro“
Marcello-Mastroianni-Preis (bester Nachwuchs-Darsteller): Abraham Attah für „Beasts of no Nation“
Bestes Drehbuch: Christian Vincent (Frankreich) für „L‘Hermine“
 
Sektion Orrizonti
Bester Film: Jake Mahaffy (USA) für „Free In Deed“
Beste Regie: Brady Corbet (USA) für „The Childhood of a Leader“
Spezialpreis der Orrizonti-Jury: Gabriel Mascaro (Brasilien) für „Boi Neon (Neon Bull)“