Filmfest Venedig 2015

Sex & Drugs & Rock'n'Roll

08.09.2015
Matthias Schoenarts, Tilda Swinton, Dakota Johnson & Ralph Fiennes © Paolo Roversi
Frische Filmwaren beim Festival Venedig: Das aktuelle Motto lautet Sex & Drugs & Rock'n'Roll. Bei einem Remake des Romy-Schneider-Hits „Der Swimmingpool“ mit Star-Besetzung. Ganz besonders bei einer sensationellen Film-Bio über die Rock-Röhre Janis Joplin. Und irgendwie auch bei einem Italo-Drama über eine von kirchlichen Würdenträgern eingemauerte junge Frau, die nach ein paar Jahrhunderten nackt und schön aus ihrem Verlies tritt, als wäre keine Stunde vergangen.  
„A Bigger Splash“: Dakota Johnson flirtet mit Matthias Schoenarts © Sandro Kopp

„A Bigger Splash“

Genre: Erotik-Drama. Regie: Luca Guadagnino (Italien). Star-Faktor: Hoch (Tilda Swinton, Dakota Johnson, Ralph Fiennes,  Matthias Schoenarts). Venedig-Premiere: Im Wettbewerb um den Goldenen Löwen.
Die Idee klingt prächtig: „A Bigger Splash“ ist ein Remake des Romy-Schneider-Klassikers „Der Swimmingpool“,  und wenn man dem etwas großmäuligen Titel Glauben schenkt, sollte die Neuproduktion bigger werden, also größer. Das gelingt auch, allerdings eher nicht im angestrebten Sinne.  Das erotische Drama um zwei Frauen und zwei Männer,  das für einen der Herren tödlich im Swimmingpool endet,  ist in der neuen Version nur greller, lauter, drastischer und oberflächlicher geworden als im Original mit Romy Schneider und Alain Delon. Aber nicht sinnlicher und auch nicht spannender.
Schade drum, denn die Besetzung ist glänzend. Tilda Swinton spielt die Zentralfigur; die Romy-Rolle. Von Beruf ist diese Marianne ein berühmter Rockstar. Gemeinsam mit ihrem Partner Paul (der belgische Rising Star Matthias Schoenarts in der Delon-Rolle) verbringt sie ihren Urlaub im Landhaus auf der Insel Pantelleria. Alles ist fein – bis der Musikproduzent Harry (Ralph Fiennes), ein Freund der beiden und Ex-Lover Mariannes, als Überraschungsgast auftaucht. Im Schlepptau hat er seine junge Tochter Penelope („50 Shades of Grey“-Star Dakota Johnson) dabei, die dringend ihre Wirkung auf Männer ausprobieren will.
Auf der Leinwand wird nun eine Stunde lang herzhaft gefeiert, geprahlt, geschäkert und gesoffen. Bis irgendwann Harry mit Marianne im Bett liegt und Penelope als Verführerin von Paul reüssiert. Und dann geht’s auch schon in den Swimmingpool, wo die beiden Männer wie brünftige Hirsche ihren Revierkampf austragen.
Was soll das Ganze? Die Frage bleibt offen. Der italienische Regisseur Luca Guadagnino verleiht den Figuren keine Tiefe und der Story keinen Spannungsbogen. Die Folge: Die berühmten Darsteller bleiben blass. Nur Ralph Fiennes ist ein Ereignis. Der sonst meist so besinnliche Engländer strahlt so viel ungehemmte und exaltierte Hysterie aus, als hätte er vor jeder Szene zehn doppelte Espresso geschluckt.
Kinochancen: Eher gering. Gesamteindruck: Ein Remake, dessen Sinn sich nicht erschließt.

„Janis“: Gloriose Dokumentation über die Rock-Ikone Janis Joplin © Getty Images

„Janis“
Genre: Musik-Doku. Regie: Amy Berg (USA). Star-Faktor: Sehr hoch (Janis Joplin). Venedig-Premiere: Außer Konkurrenz.
Beim Festival Cannes war „Amy“ ein großer Hit, die Doku über Leben und Musik der großen Sängerin Amy Winehouse.  Das Filmfest Venedig kontert jetzt mit einer ähnlich gelungenen Doku über eine andere Rock-Ikone, die – so wie Amy Winehouse – nur 27 Jahre alt wurde. „Janis“ widmet sich Janis Joplin.
Eine Amy ist auch an „Janis“ beteiligt: Regisseurin Amy Berg. Ihrem Musikfilm gab sie über die kompletten 104 Minuten ein rockendes Fundament. Man hört fast alle Joplin-Hits: Mal live gespielt, mal als Musik aus dem Hintergrund. Dazu gibt’s Interviews mit Bekannten, Verwandten und vielen Musikern – von Janis‘ Geschwistern bis zum legendären CBS-Plattenboss Clive Davis.
Da obendrein auch aus Janis‘ ganz frühen Jahren viel Bildmaterial existiert, entsteht ein lebendiges, farbenprächtiges Porträt.
Die Privatperson Janis Joplin (1943 - 1970) wird als Provinz-Pflanze aus dem trüben Städtchen Port Arthur, Texas, vorgestellt: In ihren Teenager-Jahren litt sie darunter, ein Pummelchen zu sein und freute sich, wenn sie singen konnte (aus ihrem ersten Chor wurde sie freilich rausgeschmissen).
1963, mit 20 Jahren, übersiedelte Janis nach San Francisco. Und von nun an ging es Schlag auf Schlag. Bei Blues-Sessions wurde ihre mächtige Gesangsstimme entdeckt. Drei Jahre später, nach einer kurzen Rückkehr in die texanische Heimat, fand sie mit Big Brother and the Holding Company die Band, mit der sie zum Weltstar wurde.  Ab 1969 landete sie dann, mit der Kozmic Blues Band im Hintergrund, endgültig im Rock-Olymp. Aus dem sie am 4. Oktober 1970, dem Tag ihres viel zu frühen Todes, wieder vertrieben wurde.
„Janis“ ist ein mitreißender Film geworden, der einen immer wieder staunen lässt. Darüber, wie viele Rock-Evergreens Janis Joplin in den wenigen Jahren ihrer Karriere herausbrachte. Wie modern und wie berührend diese Titel auch heute noch wirken.
Stimmlich hielt Janis, auch das ist bemerkenswert, ihren ungezügelten, lauten, fast schreienden Stil all die Jahre durch. Für ihren Lebensstil galt das nicht: Janis Joplin wirkte wie die Verkörperung des Slogans Sex & Drugs & Rock’n’Roll.  
Am Sex und am Rock’n’Roll ist diese Ausnahme-Künstlerin – auch das macht der Film deutlich – nicht gestorben.
Kinochancen: Hoch (und in der DVD-Auswertung noch höher). Gesamteindruck: Kolossal beeindruckendes Porträt einer Jahrhundert-Sängerin.

„Sangue Del Mio Sangue“: Unfromme fromme Männer und eine Frau © LaBiennale

„Sangue Del Mio Sangue“
Genre: Drama. Regie: Marco Bellocchio (Italien). Star-Faktor: Mäßig (Roberto Herlitzka, Alba Rohrwacher). Venedig-Premiere: Im Wettbewerb um den Goldenen Löwen.
Natürlich gehören zum Wettbewerbs-Programm von Venedig auch italienische Produktionen, und „Sangue Del Mio Sangue“ (zu deutsch: Blut von meinem Blut) ist ein typisches Beispiel für das aktuelle Filmschaffen des Landes. Aber kein gutes.Regisseur Marco Bellocchio hat eine ziemlich krude Mischung angerührt.
In der ersten Halbzeit ist das Drama ein historischer Kostümfilm, der drastisch vorführt, welch schlimme Folgen katholische Bigotterie haben kann, die von unterdrückter Sexualität befeuert wird.
Der Plot: Nach dem Selbstmord eines Priesters wird eine junge Frau beschuldigt, den Mann verhext zu haben.  Kirchliche Würdenträger foltern sie mit Wasser und Flammen, um ihr das Geständnis zu entlocken, vom Teufel besetzt zu sein. Da der Teufel aber nicht am Werk war und die arme Benedetta auch keine falsche Aussage machen will, gesteht sie gar nix. Und wird von den frommen Männern kurzerhand lebenslänglich eingemauert.
Schnitt. Plötzlich sind wir, am selben Orte, im italienischen Bobbio, in der Gegenwart. Ein russischer Oligarch fährt mit dem Ferrari vor und will das Kloster, in dem sich die Schreckenstaten des ersten Teils abspielten, kaufen. Dagegen erhebt ein mysteriöser alter Conte Einspruch, der das Kloster heimlich bewohnt. Er schaltet seine Freunde ein, und jetzt wird der Film endgültig absurd: Man weiß bei diesen Honoratioren nicht recht, ob sie nun Vampire sind oder Steuerhinterzieher oder eine Mischung aus beidem.
Jedenfalls wabert das Melodram noch ein wenig dahin, bis jene Mauern, hinter denen einst die junge Benedetta büßen musste, eingerissen werden. Und was geschieht? Die Dame tritt jung und schön wie ehedem (und obendrein nackt) aus dem Verlies hervor, als hätte sie keine volle Stunde darin verbracht.
„Sangue Del Mio Sangue“ ist ein schwülstiger, verwirrender Film, den man vielleicht nur verstehen kann, wenn man aus Italien stammt. Sollte das Werk auch nördlich der Alpen einen Verleih finden, wäre das eine faustdicke Überraschung.   
Kinochancen: Sehr gering. Gesamteindruck: Ein Melodram mit vielen Rätseln, die ungelöst bleiben.