Filmfest Venedig 2021

Die Preisträger: Der Goldene Löwe geht nach Frankreich

12.09.2021
von  Peter Beddies
Goldener Löwe von Venedig 2021: Die Französin Audrey Diwan gewann mit dem Drama „Happening“ © Biennale/Zucchiatti
Große Preise für große Filme: Das erschütternde Abtreibungs-Drama „Happening“ von Audrey Diwan (Goldener Löwe) führt den Reigen feiner Filme an, die beim Festival Venedig nach einem sehr starken Wettbewerb mit Auszeichnungen gewürdigt wurden. Die Jury um den südkoreanischen Regie-Star Bong Joon-ho hat alles in allem einen guten Job gemacht. FilmClicks kommentiert die siegreichen Filme und Filmkünstler.
Goldener Löwe
 „Happening“ von Audrey Diwan (Frankreich)

Ein ganz starker Preisträger des Goldenen Löwen! Das Drama „Happening“ wurde gleich nach seiner Uraufführung zu einem der Favoriten erklärt. Völlig zu Recht. Regisseurin  Audrey Diwan erzählt eine beklemmende Geschichte aus dem Jahr 1963 in der französischen Provinz. Anne (großartig gespielt von der Neuentdeckung Anamaria Vartolomei) wird ungewollt schwanger. Sie kann sich niemandem offiziell anvertrauen. Da sie ihr Studium nicht gefährden möchte, geht sie den lebensgefährlichen Weg. Und nimmt die teuren Dienste einer „Engelmacherin“ in Anspruch. Was schrecklich schief geht. Audrey Diwan findet für den Film Bilder, die man zum Teil nur schwer aushalten kann, und sie zeichnet die düstere Stimmung Anfang der 60er Jahre sehr plastisch - eine dunkle, eine meisterhafte Zeitreise.
 
Silberner Löwe, Großer Preis der Jury
„Die Hand Gottes“ von Paolo Sorrentino (Italien)

Was geschieht, wenn sich der beste Fußballer der Welt (die einen sagen so, andere sehen das eher kritisch), Diego Maradona, entschließt, beim FC Neapel anzuheuern? Die Stadt rastet aus. Überall wird gefeiert. Karten fürs Stadion werden plötzlich wie Goldstaub gehandelt. Viele emotionale Explosionen, wie immer bei Sorrentino laut bis schreiend vorgetragen. Diesen Netflix-Film kann man auszeichnen. Besser allerdings wäre es gewesen, einen mutigeren italienischen Film wie „Freaks Out“ zu ehren. Fakt ist: „Cinema made in Italy“ war in Venedig 2021 über die Maßen stark vertreten.
 
Silberner Löwe für die beste Regie
Jane Campion für „The Power Of The Dog“ (Neuseeland)

Vielleicht hatte Jane Campion im Stillen damit gerechnet, nach ihrer Goldenen Palme (1993 für „Das Piano“) auch den Goldenen Löwen mit nach Hause nehmen zu können? Aber das wäre zu viel der Ehre gewesen. Die Filmemacherin aus Neuseeland zaubert in „The Power Of The Dog“ große Bilder auf die Leinwand. Der Wilde Westen der USA. Zwei Brüder bauen eine Ranch auf. Der ältere (Jesse Plemons) will heiraten. Der Jüngere (selten wirkte Benedict Cumberbatch so blass und distanziert in einem Film) traut sich nicht zu sagen, dass er auf Männer steht. Lieber ist er grausam und gemein. Was zur Katastrophe führt. Dieser Netflix-Film schafft es hoffentlich auch mal in die Kinos. Denn er sieht fabelhaft aus. Aber innerlich ist er leider ziemlich hohl.
 
Beste Schauspielerin
Penélope Cruz für „Parallele Mütter“ (Spanien)

Penélope Cruz ist und bleibt eine der wunderbarsten und wandelbarsten und natürlichsten Schauspielerinnen unserer Zeit. Was die Jury allerdings bewogen haben mag, ihr die Coppa Volpi für ihre Rolle in „Parallele Mütter“ zuzusprechen, wird wohl ewig ihr Geheimnis sein. Wahrscheinlich wäre ihr Regisseur Pedro Almodovar beleidigt gewesen, wenn man seinem neuen Werk keinen Preis gegeben hätte. Penelope als frisch gebackene Mutter, die auf Grund eines Fehlers im Krankenhaus in eine tiefe Krise stürzt. Das macht sie ohne Frage grandios. Aber der Film gehört zu Almodovars schwächsten Filmen. Er ist mit zu vielen Themen bepackt. Besser wäre es sicher gewesen, Penélope Cruz für ihr Spiel in der Showbiz-Farce „Official Competition“ zu ehren. Was sie da als völlig duschgeknallte Filmemacherin abzieht, das ist sensationell.
 
Bester Schauspieler
John Arcilla  für „On The Job: Mission 8“ (Philippinen)

Wer diesen Film auf einen Rutsch anschaut, braucht ordentlich Sitzfleisch. Denn „On The Job: Mission 8“ kommt auf die stolze Länge von 208 Minuten. Der Film, ein Sequel zu einem Film aus dem Jahr 2013, berichtet sehr ausführlich von der Suche nach acht Menschen - hauptsächlich Journalisten -, die von einem Tag auf den anderen verschwunden sind. John Arcilla, der bei der Suche an und über seine Grenzen geht, ist in fast jeder Szene dieses nicht umspannendes Filmes zu sehen, der sehr gut schildert, welche Macht kritischer Journalismus haben kann. Wenn er denn will!
 
Bestes Drehbuch
Maggie Gyllenhaal für „The Lost Daughter“  (USA)

Es gibt bei jedem Filmfest Preise, die gar nicht anders verliehen werden können. Vorausgesetzt, dass die Jury nicht mit Blindheit geschlagen ist (was leider hin und wieder vorkommt). Hier aber hat die Jury sowas von goldrichtig entschieden. Maggie Gyllenhaal, die man bisher nur als Schauspielerin (und natürlich als Schwester von Jake) kannte, legt mit „The Lost Daughter“ ihre erste Regie- und Drehbuch-Arbeit für die Leinwand vor. Und man kann es einfach nicht fassen, mit welcher Selbstverständlichkeit sie hier zu Werke geht. Es geht um eine Literatur-Professorin (unfassbar gut von Olivia Colman gespielt), die Urlaub auf einer griechischen Insel macht. Zur Ruhe kommt sie nicht. Da ist zum einen eine mafiaähnliche sehr laute Familie (Dakota Johnson als „White-Trash-Queen“ überzeugt). Und zum anderen kommt ihr immer wieder die Vergangenheit in die Quere. Sie hat einmal einen großen Fehler gemacht, der sie aber auch zu der Person werden ließ, die sie heute ist. Schuld und Sühne und Moral und Scheinmoral. All das puzzelt Maggie Gyllenhaal zu einem Gesamtwerk, das Bewunderung verdient. Wird man vielleicht bei den Oscars wieder sehen.
 
Spezialpreis der Jury
Michelangelo Frammartino für „Il Buco“ (Italien)

Gängiger Dialog der letzten Tage am Lido: „,Il Buco‘ gesehen?“ – „Ja. Die ersten 30 Minuten. Und dann herrlich geschlafen!“ Ein Film, der mit dem Spezialpreis der Jury bestens bedient ist. Da werden gern Filme ausgezeichnet, die ein Stück neben der Norm laufen. „Il Buco“ erzählt mit einem Tempo, das Schnecken wie Rennpferde erscheinen lässt, von einer Expedition im Piemont im Jahr 1961. Michelangelo Frammartino zeichnet auf der einen Seite den Weg von Extremsportlern in eine der tiefsten Höhlen der Welt nach. Auf der anderen Seite sehen wir Gras beim Wachsen zu. Der Film hat keinerlei Dialoge, nur Geräusche. Es ist diese Art von Film, für die niemand auf dieser Welt auf die Idee käme, eine Kinokarte zu lösen. Aber da „Das kleine Fernsehspiel“ des ZDF den Film mit produziert hat, wird er wohl irgendwann in der Nacht mal im TV zu sehen sein. Allerdings könnte es auch passieren, dass er wegen seiner extremen Entschleunigung mal zum Kult wird. 
 
Marcello-Mastroianni-Preis für ein Nachwuchs-Schauspieltalent
Filippo Scotti für „Die Hand Gottes“ (Italien)
Noch einmal der Film über Diego Maradonas Ankunft in Neapel: Die Stadt rastet aus. Alle?  Der junge Fabietto (Filippo Scotti) eher nicht. Zuerst freut er sich - wie alle anderen. Eine Dauerkarte fürs Stadion bekommt er auch noch. Aber dann hüpfen die Hormone, Fabietto hat andere Probleme. Fußball interessiert ihn eher weniger. Filippo Scotti spielt das durchaus solide. Aber es hätte viel bessere junge Talente gegeben, denen man den Preis hätte geben können oder sollen. Anamaria Vartolomei zum Beispiel in „Happening“.