Berlinale 2019

Ein Abschied, der mit einem Happy End beginnt

07.02.2019
von  Gunther Baumann
„The Kindness Of Strangers“: Regisseurin Lone Scherfig (M.) mit Zoe Kazan und Tahar Rahim © Katharina Sartena
Die 69. Berlinale ist noch kaum einen Tag alt, da haben viele Besucher schon die ersten Tränen verdrückt. Ein Hauch von Melancholie durchwehte den Berlinale-Palast bei der Eröffnung am 7. Februar. Einerseits, weil der scheidende Festival-Chef Dieter Kosslick zum letzten Mal die Gäste begrüßte. Und andererseits, weil als Eröffnungsfilm ein ungemein berührendes Drama ausgewählt worden war. „The Kindness Of Strangers“ ist ein modernes Großstadtmärchen aus New York, in dem sich die Geschicke einiger vom Schicksal geprügelter Menschen auf wundersame Weise (und durch die Freundlichkeit von Fremden) zum Besseren wenden.
Kosslick.  „Ich gehe glücklich, nicht frustriert“, sprach der Festivaldirektor. „Berlin wird Dieter vermissen“, schallte es aus der Filmszene zurück. Der nahende Abschied von Dieter Kosslick, 70, der die Berlinale seit 2001 leitet, war das Thema Nummer eins rund um die Berlinale-Eröffnung.

Sein letztes Festival: Berlinale-Langzeit-Direktor Dieter Kosslick © Berlinale / Weichert

Kosslick hat die Berlinale in den letzten 18 Jahren nicht nur durch seinen Charme, seinen schwäbischen Akzent, sein originelles Englisch und seine Outfits mit Hut und wehendem Schal geprägt. Er betonte stets die politische Linie des Festivals; er hat ein feines Gespür für Zeitströmungen in der Gesellschaft und in der Kultur.
 
Ganz aktuell: Während zum Beispiel Institutionen wie die Oscar Academy oder das Festival Cannes heftig dafür gescholten werden, weibliche Filmemacher zu vernachlässigen, hat Kosslick gleich acht Regisseurinnen (unter ihnen die Österreicherin Marie Kreutzer) in den Wettbewerb der Berlinale 2019 eingeladen.
 
Profil. Allerdings schaffte es Kosslick in seiner Ära nicht, das Profil der Berlinale im Festival-Dreikampf mit den ewigen Rivalen Venedig und Cannes zu schärfen. Mit neuen Filmreihen wie etwa dem „Kulinarischen Kino“ ließ er das üppige Angebot eher in die Breite als in die Tiefe wachsen (heuer sind rund 400 Filme, darunter 196 Weltpremieren, zu sehen). Was den Glamour-Faktor betrifft, sind die Küstenstädte Cannes und Venedig schon geographisch im Vorteil. Der  Februar-Termin der Berlinale verstärkt dieses Problem noch. So knapp rund um die Oscar-Verleihung zieht es viele Stars nicht unbedingt nach Berlin, um dort an einem kalten Winterabend über den roten Teppich zu laufen.
 
Bevor 2020 die neuen Berlinale-Chefs Carlo Chatrian (bisher Festivaldirektor in Locarno) und Mariette Rissenbeek antreten, erlebt Berlin dieses Jahr noch einmal ein typisches Kosslick-Programm. Der Starfaktor ist vergleichsweise niedrig; nur Christian Bale und Regisseur Adam McKay werden am 11. Februar bei der Gala ihrer für acht Oscars nominierten  Polit-Groteske „Vice“ für Hollywood-Atmosphäre sorgen. Von dieser Europa-Premiere abgesehen, stehen viele Arthaus-Produktionen im Vordergrund.
 
Arthaus. Das Interesse konzentriert sich dabei auf Filme wie „Der goldene Handschuh“ (Serienmörder-Drama von Fatih Akin; mit dabei im Cast: die Österreicherin Margarete Tiesel),  „Grace à Dieu“ (Frankreichs Star-Regisseur Francois Ozon beleuchtet einen Missbrauchsfall in Kirchenkreisen), „Die Agentin“ (Diane Kruger und Martin Freeman in einem Spionage-Thriller um eine Mossad-Agentin) oder „Mr. Jones“ (Drama über die Zeit des Stalinismus von Regisseurin Agnieszka Holland).
 
Österreich. Das Filmland Österreich ist dieses Jahr stark bei der Berlinale vertreten. Außer dem Wettbewerbsfilm „Der Boden unter den Füßen“ von Marie Kreutzer laufen in der Festival-Reihe Forum der Dokumentarfilm „Erde“ von Nikolaus Geyrhalter und die Zombie-Groteske „Die Kinder der Toten“ von Kelly Copper & Pavol Liska – sehr frei basierend auf dem gleichnamigen Roman von Elfriede Jelinek. In der Serien-Sektion der Berlinale sind „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ von David Schalko sowie das Endzeit-Drama „8 Tage“ am Start, bei dem Oscar-Preisträger Stefan Ruzowitzky zu den Regisseuren zählt.

Berührend: „The Kindness Of Strangers“ mit Zoe Kazan und Tahar Rahim © Per Arnesen

Eröffnungsfilm. Der Einstieg in die Berlinale ist dieses Jahr jedenfalls prächtig gelungen. Die dänische Regisseurin Lone Scherfig, die mit „Italienisch für Anfänger“ berühmt wurde, erzählt in „The Kindness Of Strangers“ eine Geschichte aus New York. Darin geht’s um eine junge Mutter namens Carla (Zoe Kazan),  die eines Nachts gemeinsam mit ihren zwei kleinen Buben die eheliche Wohnung verlässt. Sie flieht vor ihrem gewalttätigen Ehemann nach Manhattan.

Das glitzernde New York ist allerdings der denkbar schlechteste Ort für eine junge Frau ohne Geld und ohne Plan. Binnen kürzester Zeit landet Carla mit ihren Kids im Obdachlosenasyl. Aber dann entwirft der Film das  Bild von einem New York, in dem nicht nur kalter Egoismus, sondern auch viel Empathie zu finden ist. Auf wundersame Weise fügen sich die Dinge für Carla, ihre Kinder und auch die anderen Protagonisten der Story allmählich zum Guten.

Happy End. „The Kindness Of Strangers“ ist ein von Humanismus und Wärme geprägter Glücksfall von einem Film, der übrigens schon bald in unsere Kinos kommen wird. Als Statement des Berlinale-Direktors ist die Auswahl dieses Films bemerkenswert: Er beginnt sein letztes Festival mit einem Happy End: Alles wird gut.