Berlinale 2020

Die Eröffnungsgala: Zwischen Poesie und Betroffenheit

20.02.2020
von  Peter Beddies, Gunther Baumann
Die Stars des Berlinale-Eröffnungsfilms „My Salinger Year“: Sigourney Weaver (r) & Margaret Qualley © Katharina Sartena
Der Abend war als heiteres Fest gedacht und wurde unvermittelt auch zum politischen Ereignis.  Die Gäste der Berlinale-Eröffnung gedachten am 20. Februar mit einer Schweigeminute der Opfer des Terror-Attentats von Hanau. In den Festreden wurde der Widerstand gegen den Rechtsextremismus beschworen. Die 70. Berlinale,  die bis zum 1. März läuft, ist die erste des neuen Leitungs-Duos Carlo Chatrian & Mariette Rissenbeek. Für den Wettbewerb um den Goldenen Bären wurden 18 Filme ausgewählt, bei denen die (oft politischen) Themen mehr zählen als Glanz & Glamour. Zur Eröffnung begrüßten Chatrian & Rissenbeek aber zwei Stars aus Amerika, Sigourney Weaver und die junge Margaret Qualley. Die beiden brillieren im Eröffnungsfilm „My Salinger Year“,  einem herrlich poetischen und zarten Drama über die Literatur und die Neunziger Jahre. „My Salinger Year“ soll im Herbst 2020 zu uns ins Kino kommen. FilmClicks hat das Werk in Berlin schon gesehen.
Neue Leitung: Die Berlinale-Chefs Carlo Chatrian & Mariette Rissenbeek © Berlinale/Janetzko

My Salinger Year
 
Genre: Drama 
Regisseur: Philippe Falardeau (Kanada)
Stars: Sigourney Weaver, Margaret Qualley, Colm Feore
Berlin- Premiere:  Eröffnungs-Gala der Berlinale 2020
 
Es ist alles andere als ein leichter Job, eines der größten Filmfeste dieser Welt zu eröffnen. Besonders jenes in Berlin. Bei dem regnet es meist (im alten Jahrtausend gab es auch mal Schnee) und der Wind pfeift über den Potsdamer Platz. Eine Wettermischung, die sich relativ häufig aufs Gemüt von Kritikern legt. Und dann werden sie unleidlich.
 
Dieses Jahr also ging’s los mit „My Salinger Year“. Sicher werden sich auch bei diesem hinreißend zarten Film wieder Menschen vom Fach finden, die meckern. Weil die Eröffnungs-Produktion nicht filmischer Aufbruch genug ist in diesen digitalen Zeiten. Weil es primär nicht um das Elend dieser Welt geht. Alles richtig und dennoch: Wunderbar, dass es solche Filme noch gibt und dass Filmfestivals wie die Berlinale sie zum Auftakt auswählen.
 
In „My Salinger Year“ geht es um den legendären US-Schriftsteller J.D. Salinger (1919 – 2010) und dessen Meisterwerk „Der Fänger im Roggen“. Wer weder ihn noch das Buch kennt, kann trotzdem ohne Gefahr, überfordert zu werden, diesen Film anschauen. Könnte höchstens sein, dass man hinterher den dringenden Wunsch verspürt, mal Salinger lesen zu wollen.
 
Mitte der 1990er Jahre jedenfalls lässt sich der extrem zurückgezogen lebende Schriftsteller von der ältesten Literatur-Agentur in New York vertreten, die von Margret (Sigourney Weaver) und Daniel (Colm Feore) geleitet wird. Immer mal wieder braucht man in der Firma junge Menschen, denen eine besonders triste Arbeit zugeteilt wird. Sie dürfen die massenhaft ankommenden Fan-Briefe für Salinger lesen, dann einen formellen Brief absenden und die Originale vernichten. Salinger hat sich seit Mitte der 1960er Jahre nicht mehr um die Dienstpost gekümmert.

Ein großes Talent: Margaret Qualley in „My Salinger Year“ © micro-scope

Eines Tages wird die junge Joanna (Margaret Qualley) bei der Agentur vorbeigeschickt. Sie stammt eigentlich aus Berkeley. Möchte aber in New York Dichterin werden. Den Job bei der Agentur sieht sie als Einstieg in die Welt der Schöngeister. Aber schon bald merkt sie, dass sie die Salinger-Briefe, die sie jeden Tag lesen muss, nicht mehr loslassen. Die Absender erscheinen ihr in Tagträumen, sie möchte ihnen am liebsten schreiben.
 
Am allerliebsten würde sie natürlich gern den als Exzentriker verschrienen J.D. Salinger mal kennenlernen. Was ihre Chefin aber radikal ablehnt. Als Salinger jedoch beschließt, eine seiner älteren Novellen als Buch zu veröffentlichen und sich mit einem Verleger in Washington treffen will, ergibt sich vielleicht die Chance für Joanna, ihrem Idol – mit dem sie regelmäßig telefoniert – näher zu kommen.
 
Die Geschichte von „My Salinger Year“ klingt zu gut, um ausgedacht zu sein. Sie hat sich wirklich so (oder so ähnlich) zugetragen. Die Autorin Joanna Rakoff hat ihre eigenen Erlebnisse 2014 als Buch („Lieber Mr. Salinger“) veröffentlicht, ein weltweiter Buch-Hit.
 
Der kanadische Regisseur Philippe Falardeau („The Good Lie“) hat die Geschichte nun als liebevolle Zeitreise in die Neunziger Jahre umgesetzt. Eine Zeit, als Computer noch belächelt wurden (was im Film passiert) und in der man E-Mails für einen kurzfristigen Trend hielt. „My Salinger Year“ durchweht deshalb auch eine wunderbare Traurigkeit. Unsere digitale, rasend schnelle Zeit schien damals so weit weg und war dennoch gleich um die Ecke. In diesem Film nimmt man noch Bücher in die Hand und lässt sich von ihnen beeindrucken.
 
Darstellerisch ist „My Salinger Year“ einfach nur ein Fest. Sigourney Weaver als Agentur-Chefin lässt ein bisschen die Art der Vogue-Prinzipalin Anna Wintour in ihrem Spiel durchschimmern – wahrscheinlich waren die mächtigen Frauen damals einfach so. Aber sie übertreibt es nicht.
 
Doch jeder Moment in diesem stillen und eindrücklichen Film gehört der Entdeckung Margaret Qualley, der Tochter von Andie MacDowell. Die Fans von Quentin Tarantino dürften sie schon aus „Once Upon A Time...In Hollywood“ kennen, wo sie als junge Hippiedame namens Pussycat den großen Brad Pitt um den Verstand brachte. Hier, in ihrer ersten Hauptrolle, strahlt Margaret Qualley wie ein Diamant. Auf der Suche nach der Liebe, dem Leben und überhaupt. Von ihr wird man in nächster Zeit sicher viel hören und sehen.   (bed)
 
Kinostart: Wahrscheinlich im Herbst 2020
Publikums-Chancen: Potenzieller Arthaus-Hit
Gesamteindruck: Eine liebevolle Zeitreise ins Jahr 1996 und eine Hymne an die Literatur sowie alles Analoge.