Berlinale

Starker Start für „Nymphomaniac“

09.02.2014
von  Gunther Baumann
Ein Loblied auf die Lust: Joe (Stacy Martin) vergnügt sich in "Nymphomaniac" mit einem Lover © Filmladen
Seit Monaten rührt Lars von Trier im Internet mächtig die Werbetrommel für sein Erotik-Drama „Nymphomaniac“, dessen erster Teil am 20. Februar im Kino anläuft. Am Sonntag ging „Nymphomaniac Volume 1“ bei der Berlinale an den Start. Es gab viel Applaus für einen nachdenklichen Film, dessen Thesen eher für Diskussionen sorgen könnten als seine kurzen, aber expliziten Sexszenen.
Erotik. „In der Erotik geht es darum, Ja zu sagen“,  erzählt Joe, die Titelheldin von „Nymphomaniac“, über ihre Einstellung zur Sexualität. Und was ist mit der Liebe? Die lustvolle Frau, die manchmal den Würfel benutzt, um den Zeitplan ihrer zahlreichen Bettpartner zu regeln, winkt ab. „Liebe ist gleich Sex plus Eifersucht. Da geht es um niedere  Instinkte, verpackt in Lügen. Auf 100 Verbrechen im Namen der Liebe kommt ein Verbrechen im Namen der Lust.“
 
Der Arzttochter Joe (gespielt, je nach Alter, von Charlotte Gainsbourg und Stacy Martin) ist klar, dass sie sich mit ihrer Weltsicht außerhalb des gesellschaftlichen Mainstreams postiert. Aber was soll sie machen?  Mit 15 ließ sie sich entjungfern, und seither ließ sie die Lust nicht mehr los. Mal veranstaltete sie Sex-Wettbewerbe mit einer Freundin: Wer auf einer Zugfahrt die meisten Männer vernaschte, gewann als süßen Siegespreis eine Schoko-Nascherei. Dann gründete sie mit anderen Mädels eine Gruppe namens „Die kleine Herde“, deren erster Grundsatz lautete: Sex ja – aber zwei Mal Sex mit dem gleichen Mann ist verboten.
 
Lars von Trier betritt mit „Nymphomaniac“ eine Welt der expliziten Lust, die er optisch mit ästhetischen und expliziten Sexszenen garniert. Trotzdem ist das Erotikdrama eher ein von langen Dialogen getragenes Kino-Essay als ein Sexfilm. Das Werk beginnt damit, dass ein abendlicher Spaziergänger (Stellan Skarsgard) die gestürzte und leicht ramponierte Joe (Charlotte Gainsbourg) auf der Straße aufliest. Er kocht ihr einen Tee –sie hebt an, aus ihrem Leben zu erzählen. Bei den langen Zwiegesprächen gewinnt man den Eindruck, als würde Lars von Trier, der Regisseur und Autor des Films, die zwei Seelen in seiner Brust sprechen lassen.
 
Die Episoden von „Nymphomaniac Volume1“, in denen auch Hollywood-Stars wie Shia LaBeouf, Uma Thurman und  Christian Slater wichtige Rollen spielen, sind mal sinnlich und mal heiter, mal zornig und mal depressiv. Das Ende des Films bleibt offen. Schließlich wartet noch „Nymphomaniac Volume 2“. Premiere womöglich im Mai beim Festival Cannes.
 
Eines noch:  Joe bekennt sich zu ihrer Sexualität, geißelt sich aber selbst gelegentlich mit der moralisierenden Vermutung, irgendwie ein schlechter Mensch zu sein. Letzteres trifft auch auf eine andere Frauen- (oder besser: Mädchen-)Figur zu, die am Sonntag im Wettbewerb um den Goldenen Bären Furore machte. Im beklemmenden deutschen Drama „Kreuzweg“ von Dietrich Brüggemann wählt ein Teenager (Lea van Acken) aus einer fundamentalistischen christlichen Familie den Weg in den Tod. Weil sie mit den furchtbaren Gesetzen und Zwängen ihres Lebens nicht mehr zurechtkommt.
 
"Kreuzweg" mit Franziska Weisz und Lea van Acken © Brüggemann

Es ist gewiss kein Zufall, dass die Berlinale den lustvollen „Nymphomaniac“ am gleichen Tag wie den lustfeindlichen „Kreuzweg“ angesetzt hat. Das schärft den Blick für die Gegensätze.
 
In „Kreuzweg“ spielt die Wienerin Franziska Weisz („Hundstage“) eine bigotte und folglich bösartige vierfache Mutter, der alle Lebensfreude als Teufelszeug erscheint. Besonders zu leiden hat ihre 14-jährige Tochter Maria (grandios gespielt von Lea van Acken). Die wird im Firmunterricht von einem gemeingefährlichen Pater zur „Soldatin Jesu“ erzogen, für den sie in die Schlacht ziehen soll. Und daheim gilt die Regel: Alles verboten. Popmusik ist Satanswerk, Kontakte nach außen werden streng überwacht oder komplett verboten.
 
Die bedauernswerte Maria, von allen Seiten bedrängt,  flüchtet sich in einen Glaubenswahn hinein, der schließlich ein letales Ende nimmt. „Kreuzweg“ ist ein beklemmendes Dokument über die furchtbare Wirkung, die religiöser Fundamentalismus entfalten kann.