Crossing Europe

Geschichten von Sehnsucht, Liebe, Betrug und Gewalt

29.04.2014
von  Gunther Baumann
Intendantin Christine Dollhofer (hier mit Dario Argento) freut sich über mehr als 20.000 Besucher © Cr. Europe/Thorwartl
Erfeuliche Abschlussbilanz bei Crossing Europe: Das Filmfest, das am 30. April endete, zog mehr als 20.000 Besucher an und übertraf damit das Ergebnis des Vorjahres. „Die kompromisslose Programmauswahl und die direkte Auseinandersetzung mit den internationalen Filmschaffenden hat sich einmal mehr bezahlt gemacht“, kommentierte Intendantin Christine Dollhofer. Der mit 10.000 Euro dotierte Crossing Europe Award - European Competition ging ex aequo an Thierry de Peretti für „Les Apaches“ und an Liliana Torres für „Family Tour“. Hier noch einmal ein Überblick über Festival-Filme, die dem FilmClicks-Berichterstatter besonders ins Auge gefallen sind - voran „Gare du Nord“ von Claire Simon und „Love Steaks“ von Jakob Lass.
„Gare du Nord“: Film-Magie mit Nicole Garcia und Reda Kateb © Crossing Europe

„Gare du Nord“

Genre: Drama. Regie: Claire Simon (Frankreich). Star-Faktor: Passabel (Claire Simon und Hauptdarstellerin Nicole Garcia tragen klingende Namen in der Arthaus-Szene).
Der Pariser Nordbahnhof wird zum Sehnsuchtsort für Menschen, die nicht abreisen, sondern endlich ankommen wollen. Eine Professorin (Nicole  Garcia), die vor einer schweren Operation steht, sucht neuen Halt im Leben. Ein Student, gebürtiger Franzose mit arabischen Wurzeln, sucht seine Identität. Eine junge Ehefrau und Mutter sucht nach Wegen, ihre ramponierte Ehe zu retten. Und ein TV-Moderator sucht seine Teenager-Tochter, die durchgebrannt ist. Die Wege dieser vier Figuren kreuzen sich immer wieder im Menschengewühl des großen Bahnhofs, der auf kleinem Raum ein konzentriertes Abbild unserer Multi-Kulti-Welt ist. „Gare du Nord“, von Claire Simon reportagenhaft wie eine Doku-Collage montiert, schenkt seinen Protagonisten Trauer und Trost, Hoffnung und spirituelle Momente. Ein magischer Film.
Chancen beim kommerziellen Kino-Einsatz: Passabel. „Gare du Nord“ könnte im Arthaus-Kino gut abschneiden. Gesamteindruck: Überwältigend.

„Love Steaks“: Eine wilde, schrille, hinreißende Romanze © Crossing Europe

„Love Steaks“

Genre: Romanze. Regie: Jakob Lass (Deutschland). Star-Faktor: Null (für die Hauptdarsteller Franz Rogowski und Lana Cooper könnte der Film aber eine Rampe zum Ruhm werden).
„Love Steaks“ ist der Film mit dem größten Voraus-Hype im Programm von Crossing Europe 2014. Die wilde, schrille und aus allen gewohnten Rahmen fallende Romanze aus Deutschland gewann im Winter den Max-Ophüls-Preis. Schauplatz des Films ist ein Luxushotel an der Küste, wo der scheue Clemens (Franz Rogowski) als Masseur engagiert wird. Bald begegnet er der zu ungebremstem Aktionismus neigenden Nachwuchs-Köchin Lara (Lana Cooper), die vom Schnaps bis zu den Männern alles ausprobiert, was Spaß machen könnte. Aus den beiden, die auf verschiedenen Planeten zu wohnen scheinen, wird ein Paar. „Love Steaks“ ist die mitreißende Geschichte einer Annäherung, die den Liebenden eine volle Ladung aus Glück und Schmerzen in die Herzen donnert. Dass der Film außerdem vor Überraschungen und ultratrockenem Humor nur so sprüht, gibt diesem Kino-Gourmetstück den perfekten Pfiff.
Chancen beim kommerziellen Kino-Einsatz: Hoch („Love Steaks“ läuft bereits in Deutschland und kommt im Sommer nach Österreich). Gesamteindruck: Großartig.
 
„Abus de Faiblesse“ Isabelle Huppert als Schlaganfall-Patientin © Crossing Europe

„Abus de Faiblesse“

Genre: Drama. Regie: Catherine Breillat (Frankreich). Star Faktor: Hoch (Isabelle Huppert spielt die Hauptrolle)
Die französische Autorin und Filmemacherin Catherine Breillat schöpft ihre Geschichten gern aus Selbst Erlebtem, und das kann zu recht munteren Resultaten führen – wie etwa in „Romance“, wo sie eine Frau mit einem ausufernden Sexualleben in den Mittelpunkt stellt. Breillats neuer Film „Abus de Faiblesse“ basiert hingegen auf einer privaten Tragödie. Sie setzt sich mit den  Folgen eines Schlaganfalls auseinander, den sie 2004 erlitt. Der Plot: Die Regisseurin Maud (Isabelle Huppert) wacht eines Tages halbseitig gelähmt auf. Erst geht sie durch die schwierigen Monate der Therapie, dann holt sie einen stadtbekannten Betrüger in ihr Leben, dem sie eine Hauptrolle in ihrem nächsten Film geben will. Die Sache geht aber nach hinten los. Der Gangster (Kool Shen) betrügt auch seine Gönnerin und nimmt sie aus wie eine Weihnachtsgans. Zum Schluss ist sie finanziell ruiniert. Ende. „Abus de Faiblesse“ ist ein kaltes, sprödes Drama, in dem einzig Isabelle Huppert mit ihrem grandiosen Spiel begeistert. Alles andere ist rasch vergessen.
Chancen beim kommerziellen Kino-Einsatz: Null. Gesamteindruck: Auf eine hoch artifizielle Art völlig belanglos.
 
„Via Castellana Bandiera“: Emma Dante (l.) und Alba Rohrwacher fahren Auto © Crossing Europe

„Via Castellana Bandiera“

Genre: Groteske. Regie: Emma Dante (Italien). Star Faktor: Mäßig (Hauptdarstellerin Alba Rohrwacher ist in Italien populär)
Die 77-jährige Italienerin Elena Cotta gewann beim Filmfest Venedig 2013 den Preis für die beste Darstellerin. In der Farce „Via Castellana Bandiera“ spielt sie eine starrköpfige Autofahrerin, die sehr nachhaltig auf die Bremse steigt.  Der Film von Emma Dante, der wohl als Allegorie über die verfahrenen Zustände in Italien dienen soll, basiert auf einem extrem schlichten Plot. In einer engen Straße in Palermo kommen einander zwei Autos entgegen. Anstatt dass nun ein Fahrzeug zurücksetzen würde, damit nachher beide weiterkommen, bleiben die Fahrerinnen sitzen. Erst ein paar Minuten. Dann Stunden. Dann eine ganze Nacht. Anstatt das lächerliche Problem zu lösen, fallen die Opponentinnen in einen immer groteskeren Streit, an dem schließlich ein ganzes Stadtviertel beteiligt ist. „Via Castellana Bandiera“ ist ein recht unterhaltsamer Film, der aber doch schwer an seinem banalen Grundkonflikt leidet.  
Chancen beim kommerziellen Kino-Einsatz: Mäßig. Gesamteindruck: Zwiespältig.
 
„Betonyö“: Überfrachtete Story, großartig bebildert © Crossing Europe

„Betonyö“ („Concrete Night“)

Genre: Drama. Regie: Pirjo Honkasalo (Finnland). Star Faktor: Null.
Das finnische Coming-of-Age-Drama ist der höchst ungewöhnliche Fall eines sensationell schön und schwarz-weiß bebilderten Films, der nach drei Minuten seine beste Zeit bereits hinter sich hat und schließlich in schwülstigem Bombast verendet. Die Autorin/Regisseurin Pirjo Honkasalo schildert in „Betonyö“  die Ereignisse einer Nacht – und eines Traumes. Der Traum steht am Beginn. Der 14-jährige Simo blickt auf eine Eisenbahnbrücke, von der ein Zug höchst eindrucksvoll ins Meer stürzt. Gleich darauf wird  der Teenager vom Beobachter zum Insassen der Bahn. Und er ertrinkt. Grausam, aber filmisch grandios ins Szene gesetzt. Schnitt. Das Beobachten und das Dabeisein, das ist dann auch in weiterer Folge Thema von „Betonyö“.  Man begegnet Simo und seinem  älteren Bruder (der bald zu einer  Haftstrafe einrücken muss), Simo und seiner Mutter (die den Alkohol und den Tanz liebt), Simo und anderen merkwürdigen Menschen. Der Knabe schaut und reflektiert das Gesehene. Der Film kommt mit wenig Worten aus. Statt dessen setzt er auf die in jeder Einstellung berückenden Bilder. Nur leider wird die Optik immer stärker mit hohlen Symbolismen aufgeladen, bis man sich in einer unfreiwilligen Satire wähnt. Am Schluss gibt es, wie gelegentlich bei Haneke, zwei Akte von sinnloser Gewalt. Nur ergibt das Sinnlose, anders als bei Haneke, keinen Sinn. Fazit: Ohne stringente Story ist auch der schönste Film zum Scheitern verurteilt.
Chancen beim kommerziellen Kino-Einsatz: Null. Gesamteindruck: Uninteressant.
 
„Violet“: Die Form ist wichtiger als der Inhalt © Crossing Europe

„Violet“

Genre: Drama. Regie: Bas Devos (Belgien). Star Faktor: Null.
„Violet“-Darsteller Koen De Sutter, der als Gast nach Linz kam, erwähnte, dass dieses Drama „gerade mal zwei Seiten Dialog“ aufweise. Das heißt: „Violet“ ist fast ein Stummfilm, wenngleich sehr laut. Nur gesprochen wird wenig. Das Thema: Ein Teenager wird Zeuge, wie sein Freund in einem Einkaufszentrum niedergeschlagen und getötet wird. In der Folge versucht er, mit dem Ereignis fertigzuwerden – und mit der Tatsache, dass er seinem Begleiter nicht zu Hilfe kam. Die Familie und seine Freunde sind ihm dabei keine Hilfe. Sprachlosigkeit überall. Diese Sprachlosigkeit überfällt auch den Film – aber nicht, weil er seine Protagonisten kaum zu Wort kommen lässt. Regisseur Bas Devos hat das Drama nicht wie einen herkömmlichen Spielfilm, sondern wie eine Video-Installation gedreht. Die Form steht im Vordergrund: Bei vielen Einstellungen muss man suchen, bis man den Inhalt der Bilder entschlüsseln kann. Wer experimentelle Filme mag, mag begeistert sein. Wer es hingegen vorzieht, im Kino packende Geschichten erzählt zu bekommen, der bleibt hier ratlos zurück.
Chancen beim kommerziellen Kino-Einsatz: Null. Gesamteindruck: Uninteressant.