Manchester By The Sea

Eine Alltagsgeschichte voll Intensität


FilmClicks:
„Manchester By The Sea“: Lee (Casey Affleck, re.) mit seinem Neffen Patrick (Lucas Hedges) © Universal
DIE STORY: Das stille Drama „Manchester By The Sea“ von Kenneth Lonergan gilt als einer der Top-Favoriten im Oscar-Rennen 2017.
Der Plot: Der Handwerker Lee Chandler (Casey Affleck), einst Ehemann und Vater, ist nach einer Familientragödie zum Einzelgänger geworden. Er scheint nichts mehr vom Leben zu wollen, und das Leben will nichts von ihm. Als Hausmeister und Mädchen für alles in einem Bostoner Wohnblock spult er seine Tage ab.
Lee wird aus diesem Trott gerissen, als eine Katastrophenmeldung eintrifft.  Sein Bruder Joe (Kyle Chandler) ist an einem Herzinfarkt gestorben. Doch zuvor hat der getrennt lebende Mann Lee als Vormund für seinen Teenager-Sohn Patrick (Lucas Hedges) eingesetzt.
Um die Angelegenheiten zu regeln, kehrt Lee erstmals seit langer Zeit in seine Heimatstadt Manchester-by-the-Sea zurück. Im Grunde möchte er den Ort an der US-Ostküste, wo all sein Unglück begann, so rasch wie möglich wieder verlassen.  Doch die Umstände zwingen ihn zu einem längeren Aufenthalt, bei dem – nicht zuletzt durch die Wiederbegegnung mit seiner Ex-Frau Randi (Michelle Williams) – alte Wunden wieder aufbrechen.

Schmerzhafte Wiederbegegnung: Lee mit Ex-Frau Randi (Michelle Williams) © Universal

DIE STARS: Die Zeiten, in denen Casey Affleck vor allem als der kleine Bruder von Ben Affleck wahrgenommen wurde, dürften ein für allemal vorbei sein. Denn mit „Manchester By The Sea“ hat sich der kantige Schauspieler in die Liga der ganz Großen gespielt. Wie er diesen Lee, einen von Selbstvorwürfen zerfressenen Menschen, spielt, hat ihm vor ein paar Wochen den Golden Globe eingebracht. Ein Oscar könnte bald folgen.
Michelle Williams als Lees Ex-Frau Randi hat nur wenige Szenen. Auch die gehen sehr zu Herzen. Die wahre Überraschung des Films aber ist der junge Luke Hedges als Lees Neffe Patrick. Die bissig-witzigen Dialoge zwischen ihm und Affleck bringen einen Hauch von Leichtigkeit in diesen oft bleischweren Männerfilm.
Autor/Regisseur  Kenneth Lonergan, 54, erwarb zunächst mit seinen Drehbüchern große Meriten. Er erfand die weltweit erfolgreiche Mafia-Komödie „Reine Nervensache“ und schrieb die endgültige Fassung von „Gangs Of New  York“ (Regie: Martin Scorsese). „Manchester By The Sea“ ist erst sein dritter Film als Regisseur.

Erinnerung: Lee mit Bruder Joe (Kyle Chandler) und dem kleinen Patrick auf See © Universal

DIE KRITIK: „Das Glück“, schreibt Bestseller-Autor Heinrich Steinfest in seinem fantastischen Kriminalroman Die Haischwimmerin, „ist nicht umsonst. Man muss es bezahlen. Auf eine gewisse Weise bezahlt man es mit dem eigenen Leben, mit dem, was vom Leben übrigbleibt, wenn das Glück wieder gegangen ist.“
Die Beschreibung wirkt so, als wäre sie auf Lee, die Hauptfigur von „Manchester By The Sea“, gemünzt. Dieser Lee war einmal ein glücklicher Mensch, mit seiner Frau, mit seinen Kindern. Dann geschah ein großes Unglück (der Film verrät sehr lange nicht, welches). Seither muss Lee bezahlen. Die emotions- und ereignislose Existenz, die er seither führt, ist im Grunde nicht Leben zu nennen.
Die Feinfühligkeit, mit der Casey Affleck diesen weitgehend gefühllosen, weil seelisch erstarrten und vereisten, Mann spielt, ist allein schon den Kinobesuch wert.
Die Begegnung mit (und die Verantwortung für) den 16-jährigen Neffen Patrick wäre im Prinzip eine Chance für Lee, seinem schockgefrosteten inneren Gefängnis zu entkommen. Man spürt, wie es in ihm rumort; wie er auf Signale reagiert. Doch man sieht dann auch, wie schroff und abweisend er werden kann, wenn jemand – voran seine Ex Randi – tatsächlich versucht, die Mauern zu seinem Herzen zu durchbrechen.
Autor/Regisseur Kenneth Lonergan hat mit diesem Drama eine sehr intime Geschichte geschrieben, der die donnernden Konflikte und die großen Effekte, die man gern in Kinofilme packt, komplett fehlen. Es ist ein Familienschicksal mit tragischen Elementen, wie es sich so oder ähnlich auch in anderen Familien zutragen könnte.
Doch obwohl (oder vielleicht: gerade weil?) der Film auf jeglichen Glamour, auf Action und Attraktionen verzichtet, entwickelt die Alltagsgeschichte eine starke suggestive Kraft. Man fragt sich mit zunehmender Neugier, was Lee widerfahren sein mag. Man freundet sich mit den Männern und Frauen aus Manchester an. Und man ist dann erschüttert, wenn herauskommt, was sich einstmals wirklich abgespielt hat.  
Die Mischung aus Zurückhaltung und Intensität, mit der Kenneth Lonergan seine formidablen Darsteller durch den Schicksals-Parcours führt, hat dem Film immenses Kritiker-Lob eingetragen. Doch „Manchester By The Sea“ wurde nicht nur zum Insider-Hit, sondern auch zum kommerziellen Erfolg. Bei Produktionskosten von nur 8,5 Millionen Dollar spielte der Film an den Kinokassen bis dato bereits 38,5 Millionen Dollar ein. Von solchen Zahlen kann so mancher Blockbuster nur träumen.
In „Manchester By The Sea“ geht es um eine Familie, in der alle immer nur das Beste wollen, aber trotzdem scheitern.  Dass so eine Story in unseren Zeiten, in denen das Hollywood-Kino einen Superhelden nach dem anderen auf die Leinwand schiebt, zum Nischen-Erfolg werden kann, ist ein schönes Zeichen.
 
IDEAL FÜR: Freunde kleiner Geschichten, in denen große Lebensthemen behandelt werden.






Trailer
LÄNGE: 136 min
PRODUKTION: USA 2016
KINOSTART Ö: 19.01.2017
REGIE:  Kenneth Lonergan
GENRE: Drama
ALTERSFREIGABE: ab 12


BESETZUNG
Casey Affleck: Lee
Lucas Hedges: Patrick
Michelle Williams: Randi
Kyle Chandler: Joe
Gretchen Mol: Elise

Interview
„Es ist die Liebe, die dich am Leben hält“
Dem US-Filmemacher Kenneth Lonergan gelang mit dem Drama „Manchester By The Sea“ ein Arthaus-Hit, der seinem Hauptdarsteller Casey Affleck einen Golden Globe einbrachte. Wir trafen den Regisseur, im Oktober 2016 Stargast der Viennale, zum Interview. Mehr...