Filmfest Venedig

Gold für eine Doku von Gianfranco Rosi: Der Star ist eine Autobahn

07.09.2013
von  Gunther Baumann, Peter Beddies
Der Dokumentarfilmer Gianfranco Rosi gewann mit „Sacro Gra“ den Goldenen Löwen von Venedig © Filmfest Venedig
Filmfestival-Juroren sind berüchtigt für eigenwillige Entscheidungen. Die Venedig-Jury unter Bernardo Bertolucci wollte da nicht nachstehen. Der Goldene Löwe ging am Samstag zur Verblüffung der meisten Beobachter an die Doku „Sacro Gra“ (Thema: Menschen an der Autobahn) von Gianfranco Rosi. Zur besten Darstellerin wurde nicht Judy Dench gewählt, die im Mutter-Sohn-Drama „Philomena“ das ganze Festival zu Tränen rührte und schon jetzt als Oscar-Favoritin gehandelt wird, sondern die Italienerin Elena Cotta. Die sitzt in der kleinen Groteske „Via Castellana Bandiera“ in einem Fiat und weigert sich, auszusteigen.
Gold. „Ich hätte niemals gedacht, dass ein Dokumentarfilm beim Festival von Venedig gewinnen würde“, staunte Regisseur Gianfranco Rosi, als er am 7. September den Goldenen Löwen des 70. Festivals am Lido entgegennahm.  Nun ja: Die meisten Festival-Insider hätten das auch nicht gedacht. Zumindest bei einer Doku wie dieser.
 
Der 49-jährige Dokumentarfilmer  Rosi fuhr für seinen Siegerfilm zwei Jahre lang im Kreis. Er beobachtete und besuchte Menschen, die entlang des Autobahnrings um Rom (genannt GRA) leben und/oder arbeiten. Man schaut im Kino Sanitätern bei Erste-Hilfe-Einsätzen zu, man lauscht den Weisheiten eines Aal-Anglers, man begegnet netten Nutten, einem Butler-Darsteller in einer Fotonovela  und einem Naturschützer, der Palmen abhört, um herauszufinden, ob Insekten an ihnen nagen.
 
So sieht sie aus, die Autobahn: Goldener Löwe für die Dokumentation „Sacro Gra“ © Filmfest Venedig

„Sacro Gra“ ist ein angenehmer Film, gut geeignet zur Entspannung an einem Fernseh-Abend nach einem anstrengenden Tag. Doch die Doku hat weder optisch noch inhaltlich irgendetwas zu bieten, was sie aus dem Meer der zahllosen Film-Essays heraushebt.  Das Kino-Publikumspotenzial tendiert außerhalb Italiens gegen Null. Was die Jury an der Produktion so sehr begeisterte, dass sie ihm den wichtigsten Preis eines der wichtigsten Festivals der Welt gab, ist schwer nachvollziehbar.
 
Nebenkategorien. Der Wettbewerb von Venedig hatte heuer viele gute (wenngleich wenige herausragende) Filme zu bieten. Das gute Niveau lag nicht zuletzt an der starken Präsenz des angelsächsischen Kinos. Wenigstens zwei dieser Produktionen wurden mit Preisen bedacht – allerdings in den Nebenkategorien.
 
„Philomena“: Steve Coogan bekam den Drehbuchpreis - Judi Dench muss auf den Oscar warten © Filmfest Venedig

Beispiel „Philomena“:  Das raue Rührstück über eine Mutter, die nach Jahrzehnten ihren verlorenen Sohn sucht, wird wohl der einzige große Publikums-Hit aus dem Venedig-Programm werden.  Doch nicht nur die sensationelle Hauptdarstellerin Judi Dench blieb preislos, sondern auch Regisseur Stephen Frears, der hier mit unerhörter Sensibilität eine seiner besten Arbeiten seit Jahren vorlegte. Eine Auszeichnung gab es nur für das Drehbuch von Steve Coogan und Jeff Pope. Coogan, der in dieser wahren Geschichte den Journalisten spielt, der Judi Dench bei der Suche nach dem Sohn zur Seite steht, hätte auch den Darstellerpreis verdient gehabt.

„Joe“: Der junge Tye Sheridan (neben Nicolas Cage) gewann den Nachwuchs-Preis © Filmfest Venedig

Ähnliches gilt für das archaische Südstaaten-Drama „Joe“ von David Gordon Green, bei dem vom Goldenen Löwen bis zum Darstellerpreis für den großartigen Nicolas Cage alles möglich gewesen wäre. Bei diesem Film erweckte wenigstens der zweite Hauptdarsteller, der junge Tye Sheridan, die Aufmerksamkeit der Jury. Der 16-jährige Texaner gewann den Mastroianni-Preis für den besten Nachwuchs-Schauspieler.
 
Arthaus. Die anderen Auszeichnungen gingen an Filme, die – wenn überhaupt – nur im Arthaus-Zirkel Chancen auf eine bescheidene internationale Karriere haben.  Gleich zwei Preise gab es für das griechische Familiendrama „Miss Violence“. Die Tragödie über den Selbstmord eines elfjährigen Mädchens wurde mit dem Silbernen Löwen für die beste Regie (Alexander Avranas) sowie mit der Coppa Volpi für den besten männlichen Darsteller (Themis Papou) gewürdigt. Zwei Dramen aus Taiwan (Großer Preis der Jury für Tsai Ming Liang und „Stray Dogs“) und Deutschland (Spezialpreis der Jury für Philip Gröning und „Die Frau des Polizisten“)  vervollständigten  die Gewinner-Riege.
 
Bleibt die Coppa Volpi für die beste Schauspielerin an Elena Cotta. Die 77-jährige Italienerin spielt in der Farce „Via Castellana Bandiera“ eine starrköpfige Autofahrerin, die sehr nachhaltig auf die Bremse steigt.  
 
Steht mit beiden Füßen auf der Bremse: Elena Cotta, zur besten Schauspielerin gewählt © Filmfest Venedig

Verfahren. Der Film von Emma Dante, der wohl als Allegorie über die verfahrenen Zustände in Italien dienen soll, basiert auf einem extrem schlichten Plot. In einer engen Straße in Palermo kommen einander zwei Autos entgegen. Anstatt dass nun ein Fahrzeug zurücksetzen würde, damit nachher beide weiterkommen, bleiben die Fahrerinnen sitzen. Erst ein paar Minuten. Dann Stunden. Dann eine ganze Nacht. Anstatt das lächerliche Problem zu lösen, fallen die Opponentinnen in einen immer groteskeren Streit, an dem schließlich ein ganzes Stadtviertel beteiligt ist.
 
„Via Castellana Bandiera“ ist ein recht unterhaltsamer Film, der aber doch schwer an seinem banalen Grundkonflikt leidet. Warum die kleine Arbeit der hartnäckig bremsenden Elena Cotta für einen großen Preis am Lido reichte, bleibt – wie im Fall des Goldenen Löwen für „Sacro Gra“ – rätselhaft.            

Abschlussfilm. Als sich die Aufregung nach der Preisverleihung gelegt hatte, durften die Gäste im Festival-Palais am Lido noch einmal staunen. Über einen Star, der noch gar keiner ist. In  „Amazonia“, dem Abschlussfilm von Thierry Ragobert, geht es um ein kleines, äußerst putziges Kapuziner-Äffchen namens Sai.

Der Plot des Films mit dem Affen, in den möglicherweise bald die halbe Welt vernarrt ist: Sai, in Gefangenschaft geboren und aufgezogen, wird gleich zu Beginn  in den Regenwald gebracht. Wieso, weshalb, warum erfährt der Zuschauer nicht. Es spielt auch keine Rolle. Kurze Zeit später stürzt das Flugzeug ab, der Affe überlebt und los geht die Reise durch den größten Regenwald der Erde.

 
Abschluss mit Affe: Kapuziner-Äffchen Sai im Venedig-Finalfilm „Amazonia“ © Filmfest Venedig

Es wird in diesem bildgewaltigen Werk nicht eine Sekunde gesprochen. Die Musik von Bruno Coulais hält sich – bis auf wenige Ausnahmen – angenehm zurück. Hauptdarsteller sind Affe und Wald. Plus die Tiere, die Sai über den Weg laufen, springen, kriechen. Spinnen, ein Jaguar, Krokodile, Ameisenbären und viele andere mehr. Wir sehen Sai, der eine sehr vermenschlichte Rolle einnimmt, wie er auf all das reagiert. Er macht große Augen, wenn er Neues entdeckt. Kuscht sich auf den Boden, wenn andere Affen auftauchen. Kurzum, der Kerl wächst einem sofort ans Herz.
 
Vier Affen brauchte Ragobert, der sein Handwerk beim legendären Tierfilmer Jacques Yves Cousteau lernte, um seine Version von „Amazonia“ zu erzählen. Absolut spannend zu sehen, wie Ragobert diesen Spagat zwischen „scripted reality“ und Dokumentarfilm hinbekommt.
 
Ein ungewöhnlicher, aber sehr sehenswerter Abschluss des Jubiläumsjahrgangs 2013 in Venedig. Und vielleicht hat die Filmwelt einen neuen Star.     



 
70. Filmfestival Venedig 2013 – Die Auszeichnungen

Wettbewerb

Goldener Löwe: Gianfranco Rosi, „Sacro Gra“
Silberner Löwe (beste Regie): Alexandros Avranas, „Miss Violence“
Großer Preis der Jury: Tsai Ming Liang, „Straw Dogs“
Spezialpreis der Jury: Philip Gröning, „Die Frau des Polizisten“
Coppa Volpi (bester Darsteller): Themis Panou, „Miss Violence“
Coppa Volpi (beste Darstellerin): Elena Cotta, „Via Castellana Bandiera“
Marcello-Mastroianni-Preis (bester Nachwuchs-Darsteller): Tye Sheridan, „Joe“
Bestes Drehbuch: Steve Coogan, Jeff Pope, „Philomena“
 
Sektion Orrizonti

Bester Film: Robin Campillo, „Eastern Boys“
Beste Regie: Uberto Pasolini, „Still Life“
Innovationspreis: Sharam Mokri, „Fish & Cat“