Filmfest Venedig 2018

Lanthimos, Assayas, Cuarón: Starke Filme im Löwen-Wettbewerb

01.09.2018
von  Peter Beddies, Gunther Baumann
In Venedig für „The Favourite“ gefeiert: Regisseur Yorgos Lanthimos und Emma Stone © Katharina Sartena
Die Jury wird’s nicht leicht haben, wenn am 8. September am Lido der Goldene Löwe verliehen wird. Der Wettbewerb des 75. Filmfests von Venedig begann nämlich ausgesprochen stark. Ein Blick auf drei preisverdächtige Produktionen: Yorgos Lanthimos schuf mit „The Favourite“ eine hinreißend schräge Royals-Komödie. Olivier Assayas  macht sich in „Non-Fiction“ pointierte Gedanken über Medien, Literatur und Liebe im digitalen Zeitalter. Und Alfonso Cuarón erzählt in „Roma“ in edlen Schwarz-Weiß-Bildern Geschichten aus seiner Kindheit in Mexico City.  
„The Favourite“: Die Königin (Olivia Colman, re.) und ihre Ratgeberin (Rachel Weisz) © Filmfest Venedig

The Favourite

Genre: Komödie
Regie: Yorgos Lanthimos (Griechenland)
Star-Faktor: Sehr hoch (Emma Stone, Rachel Weisz und Olivia Colman)
Venedig-Premiere: Im Wettbewerb um den Goldenen Löwen


„The Favourite“ ist eine sehr schrille, raue und witzige Royals-Komödie, die zu Beginn des 18. Jahrhunderts am Hof von Queen Anne spielt. Arthaus-Regisseur und Festival-Liebling Yorgos Lanthimos drehte hier erstmals einen Film fürs große Publikum. 
Die deutsche Übersetzung des Filmtitels müsste „Die Favoritin“ lauten. Um diesen inoffiziellen Titel ringen zwei Damen bei Hofe; die Herzoginnen Sarah Churchill (Rachel Weisz) und Abigail (Emma Stone). Die Ladys – miteinander verwandt, aber keinesfalls befreundet – kämpfen mit allen lauteren und unlauteren Mitteln um die Gunst der Königin (Olivia Colman). Das niemals endende Gerangel wird zum streckenweise urkomischen Fest für die drei Schauspielerinnen. 
Wer Frauen prinzipiell für die besseren Menschen hält, wird mit den Frauenporträts von „The Favourite“ möglicherweise wenig Freude haben. Olivia Colman spielt die Kömigin Anne als naive, extrem launische, herrschsüchtige und nicht besonders schlaue Monarchin, die jederzeit in Tränen oder in einen Tobsuchtsanfall ausbrechen kann.
Rachel Weisz weiß als eiskalt kalkulierende Lady Sarah Churchill perfekt, mit dem königlichen Vulkan umzugehen. Dabei setzt sie nicht nur ihr Köpfchen, sondern auch ihren Körper ein, was zur möglicherweise ersten explizit lesbischen Royals-Sexszene der Filmgeschichte führt. Doch der Zweck heiligt die Mittel. Lady Churchill ist die graue Eminenz bei Hofe, die bei den Regierungsgeschäften (England befindet sich im Krieg mit Frankreich) äußerst wirksam die Fäden zieht.
Die Machtverhältnisse ändern sich jedoch, als Herzogin Abigail die Bühne betritt. Oscar-Preisträgerin Emma Stone nützt hinreißend ein riesiges Repertoire an falschem Charme, Kalkül und Intrige, um sich als Ratgeberin zwischen die Königin und Lady Churchill zu zwängen. Was ihr mit vielen faulen Tricks letztlich auch gelingt.
Yorgos Lanthimos inszeniert dieses Ränkespiel mit großer Lust und stellenweise sehr drastischen Pointen. Man kann die Machtkämpfe als Ausdruck für die hohen Hürden betrachten, mit denen Frauen konfrontiert werden, wenn sie ihre Stellung in der Gesellschaft verbessern wollen. Man kann „The Favourite“ aber auch als hinreißendes Unterhaltungsstück genießen, in dem drei großartige Schauspielerinnen alle Waffen der Frauen auspacken.   bau
Kinostart: 3. Januar 2019
Kinochancen: Ein Muss für Komödien-Liebhaber
Gesamteindruck: Drei Vollblut-Aktricen der Extraklasse liefern einander lustvolle und lustige Duelle.

„Non-Fiction“: Juliette Binoche und Guillaume Canet als Ehepaar © Filmfest Venedig

Non-Fiction (Doubles vies)
Genre: Komödie
Regie: Olivier Assayas
Star-Faktor: Hoch (Juliette Binoche und Guillaume Canet)
Venedig-Premiere: Im Wettbewerb um den Goldenen Löwen
Der französische Filmemacher Olivier Assayas kann vieles. Unglaublich spannende Mini-Serien zum Thema Terror („Carlos“), große Gedanken-Experimente („Die Wolken von Sils Maria“), völlig abgedrehtes Kopfkino („Personal Shopper“). Aber kann der Franzose auch Komödie? Die Antwort lautet - wenn auch etwas überraschend: Ja, das kann er!
In „Non-Fiction“ zeichnet Assayas ein hinreißend komisches Bild der Intelligenz heute in Frankreich. Die Eheleute Alain (Guillaume Canet) und Selena (Juliette Binoche) leben ein scheinbar konfliktarmes Leben. Er ist Verleger, sie Schauspielerin in einer gerade schwer angesagten TV-Produktion. Wenn man sich mit Freunden trifft, dann wird endlos (natürlich beim Wein) über die Medienwelt in den Zeiten von Digital und Analog gesprochen. Wer heute noch was und wie schaut und liest und überhaupt, ob nicht eine digitale Revolution im Gange ist.
Die Dinge ändern sich, als Alain den neuen Roman eines alten Freundes, den er schon seit Jahren verlegt, nicht herausbringen will. Da weitet sich die Geschichte und es kommen jede Menge Konflikte ins Spiel. Die meisten Protagonisten des Films haben ein amouröses Verhältnis, von dem die anderen nichts wissen. Der befreundete Autor verrät alle möglichen privaten Details in seinen Büchern. Die Schauspielerin möchte am liebsten beruflich alles hinschmeißen.
„Non-Fiction“ ist eine Komödie, in der unentwegt geredet wird. Aber es werden keine Platitüden ausgetauscht. Hier geht es um große Fragen der Kultur, der Medien und der Liebe. Hin und wieder streut Assayas umwerfende Gags ein. Der Running-Gag des Films hat mit Michael Hanekes „Das weiße Band“ zu tun. Und am Ende zeigt auch Juliette Binoche (wie ihr Co-Star Guillaume Canet in großer Spiellaune), dass sie über jede Menge Humor verfügt.   bed
Kinostart: Noch kein Termin
Kinochancen: Im Arthaus-Bereich sehr hoch
Gesamteindruck: Sehr komischer Blick auf Literatur, Liebe und unsere medialen Gewohnheiten zwischen Digital und Analog

„Roma“: Alfonso Cuarón erzählt Geschichten aus Mexico City © Filmfest Venedig

Roma
Genre: Familiendrama
Regie: Alfonso Cuarón (Mexiko)
Star-Faktor: Null – keine bei uns bekannten Darsteller
Venedig-Premiere: Im Wettbewerb um den Goldenen Löwen
Das mexikanische Familiendrama „Roma“ war in der Filmszene schon in aller Munde, noch bevor die Öffentlichkeit auch nur einen Schnipsel davon gesehen hatte. Der neue Film von Oscar-Preisträger Alfonso Cuarón („Gravity“) wurde im Vorfeld der Filmfestspiele von Cannes zum Politikum, weil sich der Produzent – das Streaming-Studio Netflix – mit dem Festival zerstritt und den Film wenige Wochen vor dem Filmfest wieder zurückzog.
Venedig hat daraufhin sofort zugegriffen. Nach der Premiere im Wettbewerb um den Goldenen Löwen weiß man jetzt, wie klug das gewesen ist. Denn „Roma“ ist die Art von Film, mit der sich jedes Festival dieser Welt sehr gern schmückt.
Gleich in den ersten Minuten des mit 150 Minuten nicht eben kurzen (aber keine Sekunde zu langen) Films macht Cuarón deutlich, dass er den Zuschauer zu einem Experiment in Geduld und Langsamkeit abholen möchte. Minute für Minute sieht man nichts anderes als die Credits und einen Steinfußboden, der sehr sorgfältig gewässert und geschrubbt wird. Dann zieht die Kamera auf und wir sind mitten drin in einem Haus im Mexico City des Jahres 1971. Alfonso Cuarón erzählt in „Roma“ bedächtig und  in zauberhaften Schwarz-Weiß-Bildern, was ihm in seiner Kindheit widerfuhr.
Seine Mutter wird vom Vater verlassen. Die Familie - neben ihm gibt es noch drei Geschwister - muss sich damit arrangieren. Ohne zwei Haushaltshilfen, die immer mehr in die Familie wachsen, würde überhaupt nichts funktionieren.
Nebenbei lässt der Regisseur noch die politischen Machtkämpfe der Zeit wieder auferstehen. Er zeigt das Geflecht in der Familie und was sich zu Beginn der 1970er Jahre in Mexiko alles geändert hat. Seinen Figuren folgt Cuaron mit einer bewundernswerten Leichtigkeit. Die Kamera scheint zu schweben. Mal dicht dran an den Figuren, mal mit Abstand – die reine Poesie des Kinos.   bed
Kinostart: Im Herbst in einigen ausgewählten Kinos. Im Winter dann im Programm von Netflix.
Kinochancen: In Arthaus-Kinos sehr hoch.
Gesamteindruck: Umwerfend liebevoller Blick auf die eigene Familiengeschichte des Oscar-Preisträgers Alfonso Cuarón.