Filmfest Venedig 2017

Fantasy, Politik und Rockmusik

01.09.2017
von  Peter Beddies, Gunther Baumann
Venedig: Regisseur Benicio del Toro präsentiert sich mit „The Shape of Water“ in Bestform © Katharina Sartena
Das Filmfest Venedig beginnt in diesem Jahr so stark, als wollte es die Konkurrenz in Cannes und Berlin an die Wand spielen. Im Wettbewerb um den Goldenen Löwen zeigt sich Fantasy-Großmeister Guillermo del Toro mit „The Shape of  Water“ in Höchstform. Kräftige Konkurrenz erhält er durch einen weitgehend unbekannten Regisseur wie den Libanesen Ziad Dueiri, der in der rasanten Groteske „The Insult“ einen absurden Aspekt des Nahost-Konflikts vorführt. Die Biografie „Nico, 1988“ erzählt vom Leben der Musik-Diva Nico, die einst mit The Velvet Underground rockte.   
„The Shape of Water“: Elisa (Sally Hawkins) und ihr mysteriöser Freund © Filmfest Venedig

The Shape of Water

Genre: Fantasy-Märchen
Regie: Guillermo del Toro (Mexiko)
Star-Faktor: hoch (Sally Hawkins, Richard Jenkins, Michael Shannon, Doug Jones, Octavia Spencer)
Venedig-Premiere: Im Wettbewerb um den Goldenen Löwen
Der mexikanische Fantasy-Spezialist Guillermo del Toro erreicht mit „The Shape of Water“ nach zwei schwächeren Filmen („Pacific Rim“ und „Crimson Peak“) wieder die Qualität seines frühen Glanzstücks „Pan’s Labyrinth“.
„The Shape of Water“ spielt im Jahr 1962. Der Film ist ein Ausflug in den Kalten Krieg, als die Russen und die Amerikaner um die Vorherrschaft in der Welt kämpfen.
Zwischen diese Fronten geraten eine stumme junge Frau namens Elisa (oscarreif: Sally Hawkins), die wie eine dunkle  Version von „Amélie“ wirkt, ihr schwuler und unglücklicher Nachbar Giles (Richard Jenkins) sowie ein drachenmenschenartiges Wesen aus dem Amazonas, das natürlich etliche Referenzen in der Filmgeschichte hat. Aber Guillermo del Toro erschafft etwas Eigenständiges - ein Meisterwerk des Phantastischen!
In einer wundersam versponnenen Einführung sieht man Elisa, die unter Wasser schwebend schläft. Dazu fragt die sonore Stimme von Richard Jenkins aus dem Off: „Was soll ich Ihnen erzählen von dieser Prinzessin, ihrem Geliebten und dem Monster, das alles kaputtmachen wollte?“  
Wenig später wacht Elisa auf, bringt ihrem alleinstehenden Nachbarn Giles etwas zu essen, und dann fährt sie zu ihrer Nachtschicht. Sie arbeitet in einem streng geheimen Institut des US-Militärs, wo sie gemeinsam mit ihrer Bekannten Zelda (Octavia Spencer) die Labore und die Toiletten putzt.
In diesem Institut entdeckt Elisa eines Tages einen schuppigen Amphibienmenschen (Del Toros Stammschauspieler für schräge und glitschige Rollen: Doug Jones), den der brutale Regierungs-Agent Strickland (Michael Shannon spielt mal wieder grandios böse) aus dem Amazonas mitgebracht hat.
Offenbar besitzt die Kreatur Fähigkeiten, die fürs Militär hochinteressant sind. Denn die Amerikaner halten den Amazonas-Mann versteckt und die Russen spionieren ihm hinterher.
Elisa wiederum merkt sehr schnell, dass sie zu diesem mystischen Wesen eine ganz eigene Beziehung aufgebaut hat, die, je länger dieser wunderbare Film dauert, immer versponnener, dramatischer und märchenhafter wird. Aber weil das Militär die Hand im Spiel hat, geraten die beiden in große Gefahr.
Wer einen Guillermo del Toro erwartet, der sich auf dem Feld des Horrors austobt, der könnte enttäuscht sein. Denn der Filmemacher hat hier das große Publikum im Auge. Jugendfrei ist „The Shape of Water“ (Kinostart: 15. Februar 2018) allerdings nicht. Denn zu Elisas Routinen gehört jeden Tag ein Bad und darin eine (überhaupt nicht peinlich gefilmte) Selbstbefriedigung. Auch sieht man Sally Hawkins mehrere Male nackt.
Besonders hoch ist Guillermo del Toro anzurechnen, dass er sein verwunschenes Fantasy-Märchen mit den erlesen schönen Bildern und den makellosen Kostümen nicht einfach in eine Zauberwelt gestellt hat. Die Verknüpfung der Story mit einem Thema der Zeitgeschichte  (wie es der Regisseur schon bei „Pan’s Labyrinth“ getan hat) verleiht dem Film eine wichtige zusätzliche Qualität. (bed)
Kinochancen: sehr gut, weil alles an diesem Märchen für Erwachsene stimmt.
Gesamteindruck: Guillermo del Toro ist wieder zurück in seinem Fantasy-Grusel-Reich. „The Shape of Water“ dürfte ein deutliches Wörtchen bei den Oscars mitzureden haben.
 
„The Insult“: Der Palästinenser Yasser (l.) muss sich vor Gericht verteidigen © Filmfest Venedig

The Insult

Genre: Polit-Groteske
Regie: Ziad Dueiri (Libanon)
Star-Faktor: null
Venedig-Premiere: im Wettbewerb um den Goldenen Löwen
Ein früher Favorit im Rennen um den Goldenen Löwen: Die Politgroteske „The Insult“ aus dem Libanon ist ein Film, der den Zuschauer mit seiner entfesselten Wucht förmlich umhaut. Der einen ungläubig staunen lässt und zugleich unter Hochspannung stellt. Obendrein liefert „The Insult“ auch Kennern der verworrenen Verhältnisse im Nahen Osten überraschende Einblicke.
Auslöser der Story ist einer jener blödsinnigen Kleinkonflikte,  wie sie etwa in der ORF-Reihe „Am Schauplatz“ immer wieder für Unterhaltung sorgen.  Im Kern geht es um ein 30 Zentimeter langes Wasser-Abflussrohr.
Als der Beiruter Bürger Toni eines Tages seinen Balkon absprüht, fließt das Abwasser durch dieses Rohr und von dort auf die Straße (denn es ist nicht an die Kanalisation angeschlossen). Auf der Straße steht, wie es der Zufall will, der Bautechniker Yasser, und der wird nass.
Yasser fordert von Toni, das Rohr stillzulegen – die Vorschriften. Toni lehnt ab. Also kommt Yasser mit einer Leiter, entfernt das Rohr und ersetzt es durch eine Plastikröhre, die er mit dem Regen-Abfluss des Hauses verbindet. Jetzt erscheint der erzürnte Toni mit einem Hammer und schlägt das Kunststoffteil kaputt. Die Herren plärren aufeinander ein und werden ausfällig. Toni fordert von Yasser eine Entschuldigung. Die mag der Mann nicht aussprechen. Und das hat Konsequenzen.
Denn Toni ist ein libanesischer Christ und Yasser ein Palästinenser. Der lächerliche Streit lässt in beiden Männern Aversionen hochkochen, die mit den Konflikten zwischen diesen beiden Volksgruppen zu tun haben.
Die Folge: Der Konflikt eskaliert. Auf verbale Beleidigungen folgen Faustschläge und Körperverletzung. Der Fall kommt vor Gericht. Erst solidarisieren sich die jeweiligen Freunde mit den Streithähnen. Dann berichtet die Presse darüber und die Wogen schlagen immer höher.
Irgendwann mischt sich sogar der libanesische  Präsident in den Abflussrohr-Fall ein. Denn auf einmal besteht die Gefahr, dass Gewalt zwischen Christen und Palästinensern ausbrechen könnte – wie im Bürgerkrieg, der den Libanon von 1975 bis 1990 zerriss.
„The Insult“ ist ein brillant gemachtes Dokudrama über die Tatsache, dass es im Nahen Osten noch ganz andere Trennlinien gibt als jene zwischen Israel und den Arabern; zwischen sunnitischen und schiitischen Moslems.  Der Libanon wird einerseits als modernes Land geschildert, in dem es zum Beispiel die Frauen in der Berufswelt sehr weit bringen können. Andererseits begegnet man aber auch vielen Macho-Typen, denen Stolz und Vorurteil mehr bedeuten als sachliche Diskussionen und Kompromisse.
Der Film ist möglicherweise auch deswegen so interessant geworden, weil Regisseur Ziad Dueiri viele Jahre lang sein Handwerk in Hollywood erlernte. Er gab „The Insult“ eine fast schon thrillerhafte Struktur, die in einer gloriosen Gerichtssaal-Sequenz mündet. Großartig. (bau)
Kino-Chancen: Potenzieller Arthaus-Hit
Geamteindruck: Atemloses Polit-Drama, das sein Publikum von der ersten bis zur letzten Szene fesselt

„Nico, 1988“: Trine Dyrholm begeistert als Rock-Diva Nico © Filmfest Venedig

Nico, 1988
Genre: Musik-Biografie
Regie: Susanna Nichiarelli (Italien)
Star-Faktor: mittel (die Dänin Trine Dyrholm porträtiert die deutsche Rock-Diva  Nico)
Venedig-Premiere: In der Reihe Orrizonti
„Nico, 1988“ ist ein Fest für Pop-Kenner und Eingeweihte. Wer noch nie etwas von der deutschen Sängerin Christina Päffgen gehört hat, die unter ihrem Künstlernamen Nico mit den legendären Velvet Undergound musizierte, der steht erst einmal etwas ratlos vor dieser Biografie, die hölzern beginnt und dann aber so richtig Fahrt aufnimmt.
Der Film schildert die letzten drei Jahre im Leben der Künstlerin (1938 – 1988). Die schwer drogenabhängige Frau fährt ständig mit einem alten Kleinbus über die Lande. Von England geht es nach Frankreich, dann nach Polen und die Tschechoslowakei - alles weit vor dem Mauerfall.
Nico, die privat lieber Christa genannt werden wollte, muss sich ein ums andere Mal mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen. Die Medien befragen sie stets nach der Supergroup Velvet Underground, der sie nur kurze Zeit angehörte und dann ihre eigene Karriere anstrebte. Es geht aber auch um ihr Versagen als Mutter. Sie hatte einen Sohn mit Alain Delon, den der aber nie anerkennte und der dann bei Delons Mutter aufwuchs. Und natürlich geht es auch um die Drogen, denen sie erst ganz am Ende ihres Lebens entkam.
So ein Film braucht eine Hauptdarstellerin, die einen von der ersten Sekunde packt, nicht mehr loslässt. Und das schafft die dänische Ausnahme-Schauspielerin Trine Dyrholm (die für ihren letzten Film „Die Kommune“ 2016 den Silbernen Bär der Berlinale gewann) ganz ausgezeichnet.
Dyrholm hat alle Eitelkeiten fallen gelassen und wird zu Nico in ihren letzten Jahren, von der immer noch ein unglaublicher Reiz ausgeht, während sie gleichzeitig unfassbar verlebt aussieht. Außerdem hat sich Trine Dyrholm, die mal mit 14 für Dänemark am Eurovision Song Contest teilnahm, Nico auch musikalisch draufgeschafft. Sie singt Nicos Lieder: Einige, wie „All Tomorrow’s Parties“ sind Klassiker geworden. Andere hört man nur noch selten.
Aber Trine Dyrholm schenkt uns eine Nico, der man beim Wüten auf der Bühne gern zuschaut und bei der man ergriffen ist, wenn sie am Leben verzweifelt. Große preiswürdige Leistung! (bed)
Kinochancen: in Arthäusern gut
Gesamteindruck: sehr liebevoll gemachtes Biopic, das nicht den Fehler begeht, ein ganzes Leben in zwei Stunden zeigen zu wollen. Hier geht es um die späte Nico. Und das ist ein abendfüllendes Programm.




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