Filmfest Venedig 2016

Goldener Löwe für Lav Diaz: Und wieder siegt ein Außenseiter

10.09.2016
von  Gunther Baumann, Peter Beddies
Überraschungs-Sieger: Der philippinische Filmemacher Lav Diaz mit dem Goldenen Löwen © La Biennale
Goldener Löwe für Regisseur Lav Diaz (Philippinen) und sein 226-Minuten-Drama „The Woman Who Left“: Der Hauptpreis des Festivals von Venedig geht einmal mehr an einen Film, dessen Verbreitung außerhalb der Cineasten-Zirkel gegen Null tendieren wird. Die Jury unter Bond-Regisseur Sam Mendes belohnte bei der Preisverleihung am 10. September aber auch potenzielle Publikums-Hits. Der Modeschöpfer und Regisseur Tom Ford gewann für seinen Thriller „Nocturnal Animals“ den Großen Preis der Jury, Emma Stone („La La Land“) holte den Preis der besten Darstellerin. Und die Berlinerin Paula Beer, die schon im Austro-Alpenwestern „Das finstere Tal“ beeindruckte, ist neue Trägerin des Marcello-Mastroianni-Preises. Den bekam sie für ihr grandioses Spiel in Francois Ozons Drama „Frantz“.
„The Woman Who Left“: Der Siegerfilm - 226 Minuten in Schwarz-Weiß © Filmfest Venedig

Goldener Löwe: Lav Diaz („The Woman Who Left“).
Sie haben es wieder getan. Die Jurys der großen Festivals, die meist von großen (Kommerz-)Filmemachern dominiert werden, neigen dazu, absolute Minderheitenprogramme mit goldglänzenden Preisen zu verzieren. Der Goldene Löwe für den philippinischen Filmkünstler Lav Diaz ist ein Paradebeispiel für diesen Trend. Sein Schwarz-Weiß-Drama „The Woman Who Left“ braucht knapp vier Stunden, um die Geschichte einer Frau zu erzählen, die nach 30 Jahren unschuldig verbüßter Haft entlassen wird und nun auf Rache sinnt. Da die Idee, vier Stunden am Stück mit einem Film  zu verbringen, auch auf hartgesottene Arthaus-Besucher eine eher abschreckende Wirkung hat, wird sich der Publikums-Zustrom in sehr engen Grenzen halten. Für Lav Diaz ist „The Woman Who Left“ übrigens ein ausgesprochen kurzer Film. Sein letztes Werk „A Lullaby To The Sorrowful Mystery“, das bei der Berlinale 2016 zu sehen war, dauerte acht Stunden. 

„La Region Salvaje“: Regie-Preis für Amat Escalante (Mexiko) © Filmfest Venedig

Silberner Löwe für die beste Regie: Amat Escalante („La Region Salvaje“). Auch der Regie-Preis für den Mexikaner Amat Escalante ist eine Auszeichnung für einen exotischen Film. Escalantes Drama „La Region Salvaje“ ist eine sexuell aufgeladene Phantasie, in der ein Ungeheuer eine wichtige Rolle spielt, das so aussieht, als hätte man einen Kraken mit zehn Riesenschlangen gekreuzt. Dieser Schlangenkrake versetzt mutige junge Frauen, die sich in seine Schlangenarme wagen, in höchste erotische Ekstase, hat aber auch schlechte, um nicht zu sagen lebensbedrohliche Eigenschaften. Jenseits der lüsternen Ungeheuer-Szenen schildert das seltsame Drama, durchaus realistisch, Alltags-Situationen aus Mexiko, in denen es um die Arbeitswelt, Familienthemen und Homophobie geht.

„Paradise“: Regie-Preis für Andrej Konchalovsky (Russland) © Filmfest Venedig

Silberner Löwe für die beste Regie: Andrej Konchalovsky („Paradise“). Der russische Meister-Regisseur Konchalovsky erzählt in „Paradise“ mehrere Geschichten aus dem Jahr 1942. In Frankreich haben die Deutschen das Land besetzt. Dennoch hat sich der Widerstand organisiert, während viele Inhaftierte einer ungewissen Zukunft entgegensehen. Konchalowski wählt eine Form, die sehr ungewöhnlich ist. Auf Spielfilmszenen folgen in schöner Regelmäßigkeit Verhöre mit Menschen, die gerade in der Handlung auftauchten. Ein französischer Kollaborateur, eine russische Prinzessin und ein fanatischer Nazi. Diese Befragungen sind das Zentrum des Films. Irgendwann merkt der Zuschauer, dass hier - was es im Kino auf diese Weise schon ewige Zeigen nicht mehr gab - Magisches geschieht. Werden die Protagonisten möglicherweise vor einem himmlischen Gericht befragt? „Paradise“ ist ein faszinierendes Sittenbild aus der schrecklichen Zeit des Zweiten Weltkriegs und der Nazi-Diktatur, das viele Arthaus-Kinogänger beeindrucken dürfte.
 
„Nocturnal Animals“: Großer Preis der Jury für Tom Ford (USA) © Filmfest Venedig
                                                                                                                                                              
Großer Preis der Jury: Tom Ford („Nocturnal Animals“). Der Modeschöpfer Tom Ford, der 2009 mit dem eindrucksvollen schwulen Beziehungsdrama „A Single Man“ sein Filmtalent entdeckte, hat sich für seine zweite Regie einen klassischen Thriller ausgesucht. Allerdings einen mit literarischen Anklängen. „Nocturnal Animals“ basiert auf einem Roman von Austin Wright, und ein Roman spielt auch in der Story eine wichtige Rolle. Amy Adams spielt eine reiche Frau, die einst mit einem aufstrebenden, aber noch erfolglosen Literaten (Jake Gyllenhaal) verbandelt war. Dieser Mann schickt ihr ein Roman-Manuskript. Für die Frau wird die Lektüre zum Höllentrip. Denn erstens steckt der Text voller Grausamkeiten – und zweitens voller verschlüsselter Anspielungen auf die gemeinsame Vergangenheit der beiden. „Nocturnal Animals“ (Kinostart: 22. Dezember) bietet elegantes, wildes und blendend gespieltes Hochspannungs-Kino.
 
„The Bad Batch“: Spezialpreis der Jury für Ana Lily Amirpour (USA) © Filmfest Venedig

Spezialpreis der Jury: Ana Lily Amirpour („The Bad Batch“).
Die Horror-Phantasie „The Bad Batch“ ist der Versuch einer begabten Regisseurin, mit ihrem zweiten Film alles noch größer und besser als beim ersten zu machen. Dummerweise war Ana Lily Amirpour bei ihrem phantastischen Erstling „A Girl Walks Home Alone At Night“ schon perfekt. Die Geschichte um ein junges Vampir-Mädchen war hinreißend erzählt. Nun will Amirpour bei ihrer neuen Dystopie noch mehr. Es gehe um die Liebe zwischen Kannibalen, so wurde „The Bad Batch“ angekündigt. Was Quatsch ist, weil sich – schlimm genug – nur einer der beiden Liebenden Menschenfleisch auf den Grill haut. Amirpour kann noch immer sehr gut beobachten. Aber ihr neuer Film langweilt irgendwann und weiß überhaupt nicht mehr zu fesseln. Gut gedacht ist eben nicht gleich gut gemacht.

„La La Land“: Darstellerinnen-Preis für Emma Stone (USA) © Filmfest Venedig

Coppa Volpi für die beste Darstellerin: Emma Stone („La La Land“).  Regie-Legende Wim Wenders berichtete in Venedig, er habe sich dort das Jazz-Musical „La La Land“ mit der Erwartung angeschaut, diesen Film nicht zu mögen. Doch dann habe ihn Emma Stone mit ihrem großartigen Spiel komplett in das Musik- und Liebesdrama hineingezogen. Nun, „La La Land“ gilt längst als potenzieller Oscar-Favorit – und auf Emma Stone, die hier ganz und gar hinreißend eine junge Schauspielerin zwischen Karriere-Träumen, Zurückweisung und verliebtem Herzklopfen porträtiert, gilt das wohl ebenso. Mit der Wahl Emma Stones zur besten Darstellerin des Festivals hat die Venedig-Jury jedenfalls eine Entscheidung getroffen, die bei keinem Festival-Insider auf Widerspruch stößt.   
 
„El Ciudadano Ilustre“: Darsteller-Preis für Oscar Martinez (Argentinien) © Filmfest Venedig

Coppa Volpi für den besten Darsteller: Oscar Martinez („El Ciudadano Ilustre“).
In seiner Heimat Argentinien ist der 66-jährige Oscar Martinez einer der populärsten Schauspieler des Landes. In Europa kennen ihn nur Eingeweihte, aber das könnte sich jetzt ändern. Die Juroren am Lido waren jedenfalls so beeindruckt von Martinez, dass sie ihn zum besten männlichen Darsteller des Festivals wählten. Im packenden Drama „El Ciudadano Ilustre“ der Regisseure Mariano Cohn und Gastón Duprat spielt er einen berühmten Schriftsteller und Nobelpreisträger, der nach 30 Jahren in Europa zu einem Besuch nach Argentinien zurückkehrt. Wo sein Auftauchen nicht nur Begeisterung auslöst.  

„Frantz“: Mastroianni-Preis für Paula Beer (Deutschland) © Filmfest Venedig

Marcello-Mastroianni-Preis für die beste junge Darstellerin: Paula Beer  („Frantz“). Was für ein Triumph! Nun hat Europa sie entdeckt und es gibt kein Verstecken mehr. In Frankreich wird Paula Beer schon als neue Romy Schneider bezeichnet. Und das völlig zurecht. “Frantz” ist bester Beleg. Die Anna, die sie dort spielt, fällt nicht durch extreme Pegelausschläge auf. Ihr Leiden, als der Mann im ersten Weltkrieg geblieben ist. Ihr Hoffen, sich in einen schicken Franzosen verlieben zu können. Ihre Verzweiflung, als plötzlich viele Lügen im Raum stehen. All das spielt sie mit wenigen hinreissend dosierten Gesten. Ein stiller Vulkan, der jetzt gern ausbrechen darf. Das momentan schönsten Filmversprechen, das das deutsche Kino hat. 

„Jackie“: Drehbuch-Preis für Noah Oppenheimer (USA) © Filmfest Venedig

Preis für das beste Drehbuch: Noah Oppenheim („Jackie“). Der US-Autor Noah Oppenheim schrieb die Drehbücher zu dystopischen Blockbustern wie „The Maze Runner“ oder „Die Bestimmung – Allegiant“. Auch sein Skript zu „Jackie“ hat einen düsteren Grundton, geht es doch um das tödliche Attentat auf US-Präsident John F. Kennedy, geschildert aus der Sichtweise der First Lady Jacqueline Kennedy (Natalie Portman). Das FilmClicks-Team in Venedig war vom Film eher nicht so begeistert: „,Jackie‘ (Drehbuch: Noah Oppenheimer) hat den allseits bekannten Fakten um das Kennedy-Attentat weder politisch noch psychologisch etwas Neues hinzuzufügen – abgesehen vom weiblichen Blickwinkel der First Lady. Das reicht nicht für einen packenden Film.“
 
73. Filmfestspiele Venedig 2016
Die Preisträger

Wettbewerb

Goldener Löwe: Lav Diaz (Philippinen) für „The Woman Who Left“
Silberner Löwe (beste Regie): Amat Escalante (Mexiko) für „La Region Salvaje“ und Andrej Konchalowski (Russland) für „Paradise“
Großer Preis der Jury: Tom Ford (USA) für „Nocturnal Animals“
Spezialpreis der Jury: Ana Lily Amirpour (USA) für „The Bad Badge“
Coppa Volpi (bester Darsteller): Oscar Martinez (Argentinien) für „El Ciudadano Ilustre“
Coppa Volpi (beste Darstellerin): Emma Stone (USA) für „La La Land“
Marcello-Mastroianni-Preis (bester Nachwuchs-Darsteller): Paula Beer für „Frantz“
Bestes Drehbuch: Noah Oppenheim (USA) für „Jackie“
 
Sektion Orrizonti
Bester Film: Federica Di Diacomo (Italien) für „Liberami“
Beste Regie: Fien Troch (Belgien) für „Home“
Spezialpreis der Orrizonti-Jury: Reha Erdem (Türkei) für „Koca Dünya“ („Big Big World“)