Festival Cannes 2019

Prima Premiere für Jessica Hausner

18.05.2019
von  Peter Beddies, Gunther Baumann
Auf dem roten Teppich: Jessica Hausner (M.) mit Ensemble bei der „Little Joe“-Premiere © Katharina Sartena
Viel Applaus für Jessica Hausner: Die Regisseurin aus Wien hatte mit ihrem Science-Fiction-Drama „Little Joe“ einen prima Start im Wettbewerb um die Goldene Palme. Erstklassige neue Arbeiten gab’s auch von Pedro Almódovar und Ken Loach zu sehen. Der Spanier erzählt in „Dolor y Gloria“ aus seinem eigenen Leben. Der Engländer liefert mit „Sorry We Missed You“ wieder mal ein beinhartes Sozialdrama ab.  
„Little Joe“: Die Gentechnikerin Alice (Emily Beecham) und ihre Pflanzen © Coop99

Little Joe
Genre: Science Fiction & Psycho Thriller
Regie: Jessica Hausner (Österreich)
Stars: Emily Beecham, Ben Wishaw, Kerry Fox, Kit Connor
Cannes-Premiere: Im Wettbewerb um die Goldene Palme
 
Gärtner wissen es längt: Wer mit Pflanzen spricht, der sorgt für sein und ihr Wohlbefinden. Das Glück ist ein ständiger Begleiter bei der Arbeit im Grünen. Dass so etwas bei ungesundem Ehrgeiz aber auch gehörig schief gehen kann, davon erzählt Jessica Hausner in ihrem neuen Film. 
„Little Joe“ spielt wahrscheinlich in der näheren Zukunft, obwohl das nie explizit erwähnt wird. In Liverpool arbeitet die alleinerziehende Gentechnikerin Alice (Emily Beecham) in einem Labor an einer neuen Pflanze. Ihre Idee: Wer sich um die wunderschön rot blühende Blume kümmert, sie schön warm hält und mit ihr redet, der wird mit einem rötlichen Staub belohnt, der einen glücklich macht, wenn man ihn einatmet. Alice und ihre Kollegen wollen die Pflanzen auf einer Messe vorstellen und dann in viele Schulen und Krankenhäuser bringen, damit sie dort Glück verbreiten kann.
Eines Tages nimmt Alice eine der Pflanzen - obwohl es streng verboten ist - mit zu sich nach Hause, zu ihrem Sohn Joe (Kit Connor darf als Schreckenskind ebenso für Gänsehaut-Momente sorgen wie die Jungen im Austro-Schocker „Ich seh, ich seh“ vor einigen Jahren). Der Name für die Blume ist schnell gefunden: Little Joe. Alices Sohn  scheint sich mit ihr schnell anzufreunden. Was die Frau allerdings nicht bemerkt: Jeder, der mit der Pflanze in Berührung kommt, verändert sein Wesen. Oder ist das nur Einbildung – eine Folge von Stress? Wird alles besser, wenn das Team um Alice und Chris (Ben Wishaw) die Präsentation hinter sich gebracht hat?
Jessica Hausner schuf mit „Little Joe“ eine unfassbar schöne (und zugleich schreckliche) Versuchsanordnung, was passiert, wenn die Wissenschaft zu weit geht. Der Kameramann Martin Gschlacht zaubert - wieder einmal - Bilder von großer Kraft und Klarheit auf die Leinwand. Tanja Hausner (die Schwester der Regisseurin) liefert irre schöne Kostüme, die perfekt die Stimmung des Films unterstreichen.
Das I-Tüpfelchen aber ist die Musik von Teiji Ito. Die reicht von atonalen Passagen über faszinierende Klangflächen bis zu Kreischen und wird von Jessica Hausner klug in den Momenten eingesetzt, in denen der Horror kurz davor steht, in die Realität einzubrechen.
„Little Joe“ ist sicher nicht die Art von Science Fiction, auf die ein junges Blockbuster-Publikum abfährt. Dazu ist der Film zu kühl inszeniert und nicht darauf aus, in erster Linie zu unterhalten. Wie schon bei ihrem bisher stärksten Film „Lourdes“ stellt Jessica Hausner Fragen, die wir schön selbst beantworten sollen. Für dieses Kopfkino hätte sie in Cannes auf jeden Fall einen Preis verdient.   bed
 Kinostart: Herbst 2019
Publikums-Chancen: Im Arthaus hoch
Gesamteindruck: „Little Joe“ spielt sehr gekonnt mit den Erwartungen der Zuschauer, bietet Spannung bis zum Ende und Bilder, die man nicht vergisst
 
„Dolor y Gloria“: Antonio Banderas,Penélope Cruz & Pedro Almódovar © Katharina Sartena

Dolor y Gloria (Leid und Herrlichkeit)
Genre: Drama
Regie: Pedro Almódovar (Spanien)
Stars: Antonio Banderas, Penélope Cruz
Cannes-Premiere: Im Wettbewerb um die Goldene Palme
 
„Dolor y Gloria“ ist ein typisches, bewegendes Psychodrama aus der Werkstatt von Pedro Almódovar. Nur stehen diesmal, um einen berühmten Filmtitel des Spaniers zu variieren, nicht Frauen,  sondern Männer am Rande des Nervenzusammenbruchs.
Zentralfigur ist ein in die Jahre gekommener Filmregisseur namens Salvador (Antonio Banderas), der voll Melancholie auf sein Leben blickt. Er denkt zurück an eine Kindheit in Armut, in der ihm seine Mutter (Penélope Cruz) den Weg zur Bildung und damit zur Karriere öffnete. Er leidet in der Gegenwart unter Schmerzen, die er nicht nur mit Medikamenten, sondern auch mit Drogen betäubt. Und er begegnet Männern aus seiner Vergangenheit, mit denen er in Feindschaft, Freundschaft oder Liebe verbunden war.
Pedro Almóvar brauchte nicht weit zu gehen, als er nach Motiven für „Dolor y Gloria“ suchte. Er wurde fündig bei sich selbst. Die Biografie des Protagonisten Salvador weist große Parallelen zu seiner eigenen auf.
Antonio Banderas ist ein Ereignis als vom Leben ramponierter Großkünstler, der gerade ein wenig ziellos durch die Tage marschiert. Mal sieht man ihn überglücklich (wenn er einen Ex-Geliebten nach Jahrzehnten wiedertrifft), mal erleichtert (wenn sich eine befürchtete Krebs-Diagnose als harmlos herausstellt) und mal streitbar (wenn er mit sich einem Schauspieler, den er lange verachtete, erneut in die Haare gerät).
„Dolor y Gloria“ ist ein Drama, das ohne großen Grundkonflikt auskommt, sondern lieber auf anekdotische Art viele kleine Geschichten erzählt.
Wahre Prachtstücke sind die Rückblenden in die Kindheit dieses Alfonso, in der ihm die Mutter temperament- und liebevoll zur Seite steht (Penélope Cruz spielt diese Frau aus dem Volke mit unbändiger Wucht). In einer Episode geht’s um Alfonsos Entdeckung seiner Homosexualität, in einer anderen um ein Bild, das nach Jahrzehnten wiederentdeckt wird.
Stets wirkt der Film zutiefst menschlich, ohne jemals zu kitschig zu menscheln. Der überragende Regisseur Almódovar porträtiert sein Alter Ego, den zweifelnden Regisseur Salvador, als liebenswerten gefühlvollen Denker, dessen Storys man tagelang zuhören könnte. Großartig.   bau     
Kinostart: Juli 2019
Publikums-Chancen: gut
Gesamteindruck: Ein Film, der alle Almódovar-Fans begeistern wird

„Sorry We Missed You“: Das neue Sozialdrama von Ken Loach © Festival Cannes

Sorry We Missed You
Genre: Sozial-Drama
Regie: Ken Loach (Großbritannien)
Stars: Kris Hitchen, Debbie Honeywood, Rhys Stone, Katie Proctor
Cannes-Premiere: Im Wettbewerb um die Goldene Palme
 
Eigentlich wollte Ken Loach seine Karriere schon längst beendet haben. Aber wohl spätestens nach der Goldenen Palme für „Ich, Daniel Blake“ im Jahr 2016 muss er - gemeinsam mit seinem langjährigen Drehbuch-Autoren Paul Laverty - beschlossen haben, dass die Filmwelt einen wie ihn noch braucht. Denn momentan beschreibt einfach niemand so effektiv wie Loach, wie sich der Turbo-Kapitalismus durch die Gesellschaft frisst und einen Haufen Elend hinterlässt.
„Sorry We Missed You“ spielt in derselben nordenglischen Stadt, in der Loach schon „Ich, Daniel Blake“ ansiedelte. In Newcastle hat es sich die Familie Turner einigermaßen bequem gemacht. Der Vater Ricky (Kris Hitchen) war lange Zeit arbeitslos. Jetzt will er sein eigenes Geschäft aufziehen - als eigenständiger Paketfahrer. Ihm wird eine goldene Zukunft versprochen. Allerdings gibt es da einen Haken. Er muss viel Geld investieren. Das Auto seiner Frau Abby (Debbie Honeywood) wird verkauft. Die selbständige Altenpflegerin muss nun ihre Kundinnen mit dem nie pünktlichen Bus erreichen.
Ken Loach und Paul Laverty zeigen am Beispiel der Familie Turner mal wieder, was es heißt, wenn wir uns auf die unmenschlichen Regeln des neuen Kapitalismus (der das Wörtchen sozial gestrichen hat) einlassen. Oder besser gesagt, einlassen müssen.
Die Turners arbeiten nicht mehr, um zu leben. Sie leben, um zu arbeiten. Er fährt 14 Stunden am Tag Pakete aus - sechs Tage die Woche. Ihr Arbeitstag beginnt früh um sieben und endet erst nach 20 Uhr. Für sich und ihre Kinder haben Ricky und Abby keine Zeit mehr. Als Ricky einen Tag nicht arbeiten kann, zeigt sich die Schattenseite des Systems noch mehr. Er muss Strafe zahlen vom Geld, das noch nicht verdient ist. Zudem wird der große Sohn immer rebellischer. Geht lieber Graffitis sprayen anstatt zur Schule. Und seinem Vater wirft er vor, total versagt zu haben.
Früher hatten die Filme von Ken Loach, so bitter sie auch waren, stets einen Funken Optimismus. Der ist hier komplett verschwunden. Wie es mit der Familie Turner und unserer westlichen Gesellschaft weitergehen könnte:  Der Altmeister des Sozialdramas weiß es nicht.  bed
Kinostart: Noch kein Termin
Publikums-Chancen: Eher niedrig, weil sehr deprimierend.
Gesamteindruck: „Sorry We Missed You“ ist gutes altes Sozial-Kino vom Meister des Realismus, der dieses Mal alle Hoffnung fahren lässt. Dieser Kapitalismus frisst seine Kinder.