Festival Cannes 2017

Eindrucksvolle Entdeckungen

27.05.2017
von  Gunther Baumann, Peter Beddies
Erst ausgelassen und dann sehr ernst: Das AIDS-Drama „120 BPM (Beats Per Minute)“ © Festival Cannes
Paris, die Rocky Mountains und Teheran: Das sind die Schauplätze dreier höchst unterschiedlicher Filme, die zwei Dinge gemeinsam haben: Sie sind prächtig gelungen und sie hatten beim Festival Cannes Premiere.  Hier ein erster Blick auf das französische AIDS-Drama „120 BPM (Beats Per Minute)“, den archaischen US-Thriller „Wind River“ und den deutsch-österreichischen Iran-Trickfilm „Tehran Taboo“, dessen Spiel-Szenen in einem Green-Screen-Studio in Wien gedreht wurden.
„120 BPM (Beats Per Minute)“: Adèle Haenel ist in einer kleinen Rolle zu sehen © Festival Cannes

120 BPM (Beats Per Minute)

Genre: AIDS-Drama
Regie: Robin Campillo (Marokko)
Starfaktor: Bis auf Adèle Haenel eher gering
Cannes-Premiere: Im Wettbewerb um die Goldene Palme
„120 BPM (Beats Per Minute)“ -  das klingt erst einmal wie der Titel eines Films über das ausgelassene Tanzen in den Pariser Clubs der 90er Jahre. Ist es auch in gewisser Weise. Es wird viel getanzt und musiziert in diesem Drama. Aber noch viel mehr wird geredet. Andauernd und bis zur Erschöpfung. Denn „120 BPM“ lenkt den Fokus auf  die AIDS-Aktivisten von Act Up Paris, die sich Anfang der Neunziger zusammenschlossen und sich erst einmal finden mussten.
Der Film zeigt etliche Debatten in einer Art Hörsaal. Da wird ausführlich darüber diskutiert, wie man der Gesellschaft klarmachen kann, wie homosexuelles Leben funktioniert, wie man sich gegen die aufkommende Krankheit AIDS stellt, wie man mit der pharmazeutischen Industrie wahlweise redet oder sie attackiert. Es ist ein ständiger, nie enden wollender Redefluss, den Regisseur Robin Campillo da zeigt.
Einige der Aktivisten werden im Laufe des Films näher vorgestellt. Die bekannteste Schauspielerin im Cast, die wie immer famose Adèle Haenel, kommt leider nur am Rande vor.
In der Hauptsache geht es um die Liebe der Protagonisten Sean und Nathan. Beide haben AIDS. Einer wird die Krankheit auf jeden Fall nicht überleben. Mit großer Sorgfalt und einer Zärtlichkeit blickt der Regisseur auf diese Liebe. Zeigt auch - was sicher nicht jedem Zuschauer gefallen dürfte - die beiden mehrmals beim Liebesspiel. Lässt sie viel über Tod und Leben reden. Das ist berührend – doch Insgesamt hätten dem Film weniger Dialogpassagen gut getan. (bed)
Kinochancen: In Arthäusern gut
Gesamteindruck: Sehr dialoglastiger und sehr genau beobachtender Film über die Schwulen- und Lesbenbewegung in Frankreich im Zeichen von AIDS
 
„Wind River“: Rocky-Mountains-Thriller mit Elizabeth Olsen & Jeremy Renner © Festival Cannes

Wind River

Genre: Thriller
Regie: Taylor Sheridan (USA)
Starfaktor: Hoch (Jeremy Renner, Elizabeth Olsen)
Cannes-Premiere: In der Reihe Un Certain Regard
Jeremy Renner spielt im archaischen Thriller „Wind River“ den Jäger Cory Lambert, der in den Rocky Mountains von Wyoming nach Wölfen und anderen Raubtieren sucht. Eines Tages findet er mitten in der Schneewüste die Leiche eines jungen Mädchens. Die rasch eingeflogene FBI-Agentin Jane Banner (Elizabeth Olsen) nimmt die Ermittlungen auf. Bei der Obduktion der Leiche, einer jungen Indianerin, stellt sich heraus, dass die Frau vor ihrem Tod mehrfach missbraucht wurde.
Dem Jäger geht der Fall sehr nahe, denn er erkennt die Tote – sie war eine enge Freundin seiner Tochter, die ebenfalls in jungen Jahren zu Tode kam. Diese Tragödie führte damals dazu, dass seine Ehe mit der Indianerin Wilma (Julia Jones) zerbrach.
Seine persönliche Betroffenheit hat Folgen. Cory Lambert verspricht der FBI-Agentin, alles zu tun, um den Täter zu entlarven. Er verspricht nicht, dass der Täter dies überleben wird.
„Wind River“ ist das Regie-Debüt des Drehbuchautors Taylor Sheridan, dessen für vier Oscars nominierter Thriller „Hell Or High Water“ aktuell in Österreichs Kinos läuft. Beide Filme spielen in der Welt eines auch heute noch ziemlich wilden Westens, in der das Faustrecht regiert und in der das Prinzip Auge um Auge, Zahn um Zahn mehr gilt als der Buchstaben des Gesetzes.
Im Grunde ist „Wind River“ ein Männerfilm, auch wenn das Opfer weiblich ist und wenn eine Ermittlerin mit im Zentrum steht (die aber, wenn es auf hart geht, kämpferisch ihren Mann steht). In dieser Welt wird erst geschossen und dann debattiert. Die Männer bersten zwar fast vor großen Gefühlen, sind aber weitgehend unfähig, diese auszudrücken.
„Wind River“ lockt mit zwei spannungsgeladenen, superb fotografierten Kinostunden. Der Film ist auf raue Art sehr sensibel gespielt - und er macht sichtbar, wo die Wurzeln der latenten, für Europäer oft unverständlichen Gewaltbereitschaft von Teilen der US-Gesellschaft liegen. (bau)
Kinochancen: gut
Gesamteindruck: Starker Thriller mit analytischem Blick, der mal brutal und mal sentimental ist

„Tehran Taboo“: Die Spielszenen für den Trickfilm entstanden in Wien © Coop99

Tehran Taboo

Genre: Trickfilm für Erwachsene
Regie: Ali Soozandeh (Iran)
Starfaktor: Keiner
Cannes-Premiere: In der Semaine de la Critique
Eines ist Fakt. Dass „Tehran Taboo“ in absehbarer Zeit im Iran offiziell zu sehen sein wird, gilt als extrem unwahrscheinlich. Denn der in Deutschland lebende Filmemacher Ali Soozandeh zeigt in seinem unerschrockenen Film, wie verlogen die iranische Gesellschaft heute ist.
„Tehran Taboo“ stellt drei Frauen in den Mittelpunkt, die große Schwierigkeiten haben. Die eine arbeitet als Prostituierte und weiß nicht, wo sie ihr Kind lassen soll. Eine zweite ist schwanger und möchte arbeiten, was ihr Mann ihr verbietet. Und die Dritte muss sich ihr Jungfernhäutchen nach einer wilden Nacht im Club wieder reparieren lassen, da sie wenig später heiraten soll.
Einen Film mit einem derart brisanten Inhalt konnte Soozandeh natürlich nicht in Teheran realisieren. Das hätten die Offiziellen nie zugelassen. Woanders wollte er nicht drehen, weil es nirgendwo so aussieht wie in Teheran. Also ging Ali Soozandeh einen Monat lang mit dem österreichischen Kameramann Martin Gschlacht in ein Green-Screen-Studio in Wien, wo die Darsteller – unter ihnen auch Klaus Ofczarek – vor grünen Wänden spielten. Im Anschluss wandelte der Regisseur das Material zwölf Monate lang im Rotoskopie-Verfahren in  einen Trickfilm um. Visuell erinnert „Tehran Taboo“ an den preisgekrönten israelischen Film „Waltz With Bashir“.
Das Ergebnis ist packend. Die Bilder wirken fiebrig. Die Spannung wird ständig hochgehalten, auch wenn der Rhythmus des Films nicht sehr schnell ist. „Tehran Taboo“ ist ein Blick in eine männerdominierte und sehr verlogene Welt, in der man nicht leben möchte. Aber die starken Frauen machen Mut trotz aller Hoffnungslosigkeit.  (bed)
Kinochancen: In Arthäusern gut
Gesamteindruck: Faszinierender Trickfilm über das Leben heute im Iran