Festival Cannes

Ein Western, der nach Osten schaut

18.05.2014
von  Gunther Baumann
„The Homesman“: Tommy Lee Jones und Hilary Swank vor der Premiere in Cannes © Katharina Sartena
Endlich mal ein starker Film im bisher sehr durchschnittlichen Wettbewerb von Cannes: Tommy Lee Jones ist im Western „The Homesman“ als Hauptdarsteller, Regisseur und Co-Autor im Einsatz – und er beweist einmal mehr, dass er packendes Kino zu inszenieren versteht. Der Film, der im November ins Kino kommen soll, dreht die Grundregeln des Western-Genres um. Tommy Lee Jones: „Unsere Protagonisten brechen nicht in den Westen auf - sie reisen vom Westen in den Osten der USA. Und es stehen keine männlichen Helden im Mittelpunkt, sondern Frauen.“
Großartig: Hilary Swank als resolute Farmerin in „The Homesman“ © Festival de Cannes

„The Homesman“

Genre: Western. Cannes-Premiere: Wettbewerb um die Goldene Palme. Regie: Tommy Lee Jones (USA). Star-Faktor: sehr hoch (Tommy Lee Jones und Hilary Swank in den Haupt-, Meryl Streep und Hailee Steinfeld in wichtigen Nebenrollen).

„Dies ist ein Film, der sich nicht um Genres kümmert. Es geht um die amerikanische Geschichte“, sagte Tommy Lee Jones in Cannes über seinen Western „The Homesman“. Der Schauspieler und Regisseur weiter: „Man bekommt einen Eindruck, wie unzivilisiert die Zivilisation sein kann. Auch der amerikanische Imperialismus westlich des Mississippi gegenüber den Ureinwohnern des Landes ist ein Thema – wir lassen den Film aber für sich selbst sprechen.“

„The Homesman“ ist ein Film, der viel zu erzählen hat – in einer für den Western in der Tat höchst ungewöhnlichen Geschichte. Zentralfigur ist die resolute Farmerin Mary Bee Cuddy (Hilary Swank), die ihren Hof in Nebraska ganz allein bewirtschaftet. Gewiss, sie würde gern heiraten – aber sie findet in der Einöde keinen Mann.

Das Leben ist verdammt hart im Nebraska des 19. Jahrhunderts. Nicht alle Siedler kommen gut mit dem kargen Dasein und den Naturkatastrophen zurecht. Die Story wirft den Blick auf drei Frauen, die nach schweren Schicksalsschlägen den Verstand verlieren.  Mary Bee Cuddy erklärt sich bereit, die Frauen zur Behandlung gen Osten in eine Institution nach Iowa zu fahren.

Allein zieht sie mit ihren schwer gestörten Schützlingen per Pferdewagen los – doch bald bekommt sie männliche Unterstützung. Mary rettet den Landdieb George Briggs (Tommy Lee Jones) vor dem Erhängen. Der erklärt sich zum Dank dazu bereit, den Tross durch die Wildnis bis zum Ziel zu begleiten. Ganz selbstlos handelt er freilich nicht: Mary verspricht ihm als Honorar die Summe von 300 Dollar; auszahlbar am Ziel.

Die Filmhelden reiten nun nicht, wie es im Western eigentlich Pflicht ist, einem finalen Showdown entgegen. Sie erleben statt dessen viele kleine Konflikte unterwegs. Eine Begegnung mit gut bewaffneten Indianern sorgt für Herzklopfen; die Nächte in der kalten Natur bedeuten im Grunde bedrohliche Gefahr. Mary und Biggs kommen einander allmählich näher, doch eine dramatische Wendung der Geschichte verstört die Reisenden genauso wie das Publikum.

Unterm Strich ist dieser Western ein packendes Drama, das sich um eine sehr starke und drei sehr kranke Frauen dreht. Der Platz der Männer ist in der zweiten Reihe, wo sie ihre Revierkämpfe um Macht, Profit und Liebe austragen. Am Ziel wartet Meryl Streep in der Rolle einer Pfarrers-Frau, die die Patientinnen in Empfang nimmt. Gut möglich, dass dieser Part für die dreifache Oscar-Gewinnerin etwas ganz Besonderes wahr:  Eine der Landfrauen, die ob ihres Seelenleids verstummten, wird von Streeps Tochter Grace Gummer gespielt.

Erfolgs-Chancen im Kino: Hoch. Gesamteindruck: Ein meisterlicher Western der ungewöhnlichen Art mit einem bärenstarken Ensemble.