Festival Cannes

Große Kunst und grober Unfug

22.05.2013
von  Gunther Baumann
Holländischer Wettbewerbsfilm "Borgman": Sinnliche, aber mörderische Groteske © Festival Cannes
Festival Cannes:  Die Jury um Steven Spielberg, Christoph Waltz und Nicole Kidman  bekommt täglich zwei bis drei Filme vorgesetzt, die um die Goldene Palme rittern. US-Produktionen wie „Inside Llewyn Davis“ (von Joel & Ethan Coen) oder „Behind The Candelabra“  (Steven Soderbergh)  haben das Zeug zum Publikums-Hit. Andere Werke blühen eher im Stillen – oder auch gar nicht. Ein Überblick über  Wettbewerbs-Filme, die im Schatten der Star-Produktionen stehen.
„Borgman“ von Alex van Warmerdam (Holland). Ein skurriles Schreckensdrama, das manchmal so wirkt wie eine satirische Version von Michael Hanekes „Funny Games“.  Die Story: Ein abgerissener Mann begehrt eines Tages Einlass an der Tür einer noblen Villa und bittet darum, duschen zu dürfen. Der Hausherr schmeißt ihn raus, doch seine Frau zeigt Herz, und dieser Borgman beginnt, das Leben der Familie zu beherrschen. Denn er ist nicht allein, und er hat nichts Gutes im Sinn: Borgman und seine Freunde (eine Sekte? Außerirdische? Moderne Vampire? Der Teufel und sein Team?) verlegen sich auf ein mörderisches Treiben. Der Film liefert keinerlei Erklärungen für die Motive der Täter. Doch der Unterhaltungswert der Groteske ist hoch – vorausgesetzt, man hat eine Ader für ultraschwarzen Humor. „Borgman“ könnte ein Arthaus-Hit werden.
 
„The Past“ von Ashgar Farhadi (Iran). Der Regisseur, der für sein grandioses Drama „Nader und Simin – Eine Tennung“ den Goldenen Bären und den Oscar gewann, erzählt mit diesem in Frankreich gedrehten Film einmal mehr eine Beziehungsgeschichte. Allerdings ohne die politischen und religiösen Implikationen, die seinen Oscar-Film so spannend machten. Eine Pariserin namens Marie (glutvoll: Bérénice Béjo) steht im Zentrum eines Beziehungsgeflechts, in dem der Blick zurück auf die Vergangenheit immer wieder das Glück der Gegenwart stört, wenn nicht gar zerstört. Ein etwas sprödes Drama, das in Arthaus-Kinos ein Publikum finden wird.
 
"A Touch of Sin": Raue Mischung aus "Pulp Fiction" und "Robin Hood" © Festival Cannes


„A Touch of Sin“ von Jia Zhangke (China). Eine wilde Mischung aus „Pulp Fiction“ und „Robin Hood“. Ein zorniger Arbeiter geht mit der Feuerwaffe gegen Korruption  und weitere  Missstände im Lande vor: Leichen pflastern seinen Weg. Auch andere Protagonisten werden beobachtet, die es im ökonomischen Boom-Land China schwer haben, eine lebenswerte Existenz zu führen. Ein eindrucksvoller, extrem systemkritischer Film. Erstaunlich ist die Tatsache, dass „A Touch of Sin“, so die Auskunft von Regisseur Jia Zhanke in Cannes, die chinesische Zensur passiert hat.
 
„Like Father, Like Son“ von Kore-Eda Hirokazu (Japan). Diese bewegende Produktion rückt einen Eltern- (und Kinder-)Albtraum ins Schlaglicht. Zwei einander unbekannte Paare bekommen die Nachricht aus dem Krankenhaus, dass ihre mittlerweile fünfjährigen Söhne kurz nach der Geburt vertauscht wurden. Sollen die Kinder jetzt ausgetauscht werden, damit sie bei ihren leiblichen Eltern aufwachsen? Oder sollen sie bei ihren vermeintlichen Erzeugern bleiben? Die zwei Paare gehen gänzlich unterschiedlich mit der Situation um. Und die Söhne wissen nicht, wie ihnen geschieht. Packend!

Üppige Nackte und Lebemann: "La Grande Bellezza" © Festival Cannes


„La grande Belezza“ von Paolo Sorrentino (Italien). Fellini für Anfänger. Autor/Regisseur Sorrentino montiert eine Vielzahl von Szenen-Schnipseln aus der Welt der Reichen und Schönen zu einer üppig bebilderten, aber eindrucksvoll oberflächlichen Leinwand-Illustrierten über das Leben und seinen Sinn. Wenn der Film einen alternden Playboy seiner vollbusigen Gefährtin erzählen lässt, Begräbnisse seien nicht so sehr Trauerfeiern, sondern vor allem als Society-Events bedeutsam, dann ist der Gipfel des Unfugs erreicht.

„A Castle In Italy“ von und mit Valeria Bruni Tedeschi (Frankreich). Die Schwester von Carla Bruni erzählt in ihrem neuen Film, dass auch sehr reiche Leute sehr große Probleme haben können: Zwischen Krankheit, Liebe, (hysterischem) Kinderwunsch und Tod. Die Regisseurin glänzt in diesem wohl autobiografisch gefärbten Familiendrama als raue und rechtschaffen neurotische Hauptfigur. Einige Szenen sind rasend komisch, etwa jene in einer Klinik für künstliche Befruchtung. Doch gegen Ende verliert der Film seinen Fokus komplett aus den Augen, und man ahnt: Dies ist nur eine Suada über eine völlig abgehobene Familie, die bei  Finanzproblemen mal schnell ein Bruegel-Gemälde aus der eigenen Sammlung auf den Markt wirft. Mit den frischen Millionen geht das depressive High Life dann weiter.
 
"Grigris": Was als Tanz-Komödie beginnt, endet als Gangsterfilm © Festival Cannes

 
„Grigris“ von Mahamat-Saleh Haroun (Tschad). Der exotischste Film im Wettbewerb – und einer der starken.  Titelheld Grigris ist ein begnadeter Tänzer, obwohl er ein gelähmtes Bein hat. Als sein todkranker Onkel die Spitalskosten nicht mehr bezahlen kann, lässt sich der freundliche Mann mit einer Benzinschmuggler-Bande ein, und aus der beschwingten Dancefloor-Komödie wird ein echter Gangsterfilm. Im Showdown sieht es nicht gut aus für Grigris – bis weiblicher Beistand naht, in einer höchst verblüffenden Form von Frauenpower. Fazit: Preisverdächtig. Wird hoffentlich einen Verleih bei uns finden.