Berlinale 2019

Große Preise für kleine Filme

17.02.2019
von  Gunther Baumann, Peter Beddies
Gewinner des Goldenen Bären 2019: Der israelische Filmemacher Nadav Lapid („Synonymes“) © Berlinale / Hübner
Preisträger-Gala bei der Berlinale 2019: Einerseits war alles anders als sonst, weil Festival-Chef Dieter Kosslick nach 18 Jahren am 16. Februar wehmütig Abschied nahm. Andererseits war alles wie immer: Eine prominent besetzte Jury (Präsidentin: Juliette Binoche) verteilte große Preise an kleine Filme. Der Goldene Bär ging an das Drama „Synonymes“ des israelischen Regisseurs Nadav Lapid. Als beste Regisseurin wurde die Deutsche Angela Schanelec für ihre spröde Familien-Elegie „Ich war zuhause, aber“ ausgezeichnet. Wang Jingchun und Yong Mei aus China nahmen als Hauptdarsteller des Dramas „Di jiu tian chang“ („So Long, My Son“) die Darstellerpreise entgegen. Österreichs Wettbewerbs-Beitrag „Der Boden unter den Füßen“ blieb unbelohnt. In Nebenreihen des Festivals waren aber österreichische Produktionen wie die Geyrhalter-Doku „Erde“ oder die wilde Elfriede-Jelinek-Hommage „Die Kinder der Toten“ erfolgreich.
Der Siegerfilm des Berlinale-Wettbewerbs 2019: „Synonymes“ © Berlinale / SBS Films

Goldener Bär: Nadav Lapid („Synonymes“)

Der Berlinale-Katalog beschreibt „Synonymes“ als „tragikomisches Puzzle, das seine Geheimnisse klug zu hüten weiß.“ Der Plot: Ein Mann aus Israel kommt nach Frankreich. Er rennt minutenlang nackt durch die Wohnung. Immer wieder schwingt sein Gemächt in die Kamera. Offenbar wurde er bestohlen. Warum und wieso, spielt keine Rolle. Regisseur Nadav Lapid will das Gefühl der Heimatlosigkeit vermitteln: Der junge Mann mäandert durch Paris. Mal schläft er mit Frauen. Dann wird er offenbar von einem Sicherheitsdienst oder einem Geheimdienst angeworben. Zwischendurch ist er bei einem Porno-Casting und soll sich den Finger in den Allerwertesten stecken und dazu auf Hebräisch versaute Sachen sagen. Man kann „Synonymes“, wie es die Festival-Jury tat, als verrätselte Filmcollage auszeichnen. Man kann die Produktion aber auch als wirres Arthaus-Werk bezeichnen, das seine (vermutlich wenigen) Zuschauer vor unlösbare Verständnisprobleme stellt. FilmClicks neigt zu letzterer Auffassung.

Preis für einen Film über einen Missbrauchs-Skandal: Francois Ozon © Berlinale / Hübner

Silberner Bär (Großer Preis der Jury): Francois Ozon („Grace á Dieu“)
Von „Swimming Pool“ über „8 Frauen“ bis zum Weltkriegsdrama „Frantz“: Francois Ozon zählt zu den vielseitigsten und erfolgreichsten Filmemachern Frankreichs. Mit seinem neuen  Werk „Grace à Dieu“ will der Regisseur nicht als Filmkünstler glänzen, sondern er hat sich ganz in den Dienst der Story gestellt. „Es geht um die Stille rund um den Missbrauch von Kindern“, sagte er in Berlin. Ozon arbeitet einen Fall auf, der in Frankreich mittlerweile dröhnende Schlagzeilen macht. Ein katholischer Pater hatte viele Jahre lang Knaben in Pfadfinderlagern sexuell missbraucht. Die Amtskirche versuchte, den Fall mit Schweigen zu lösen. Doch seitdem sich einige der Opfer – mittlerweile erwachsen – zu Wort meldeten, ist neue Bewegung in den Skandal gekommen. Francois Ozon erzählt das Drama wie eine Dokumentation, in der reale Figuren mit realen Namen von Darstellern gespielt werden. Die Verfahren gegen den Pater Bernard Preynat (wegen sexueller Übergriffe) und den Kardinal Philippe Barbarin (wegen Nichtanzeige) laufen. Allein deswegen hat „Grace á Dieu“ in Frankreich höchste Brisanz.

Regiepreis für ein staubtrockenes Drama: Angela Schanelec © Berlinale / Ghandtschi

Silberner Bär für die beste Regie: Angela Schanelec („Ich war zuhause, aber“)
Die Regisseurin Angela Schanelec gilt als die große Verweigerin in der deutschen Filmlandschaft. Und das macht sie mit ihrem extrem kargen und reduzierten Drama „Ich war zuhause, aber“ wieder sehr deutlich. Die Geschichte dreht sich darum, dass ein 13jähriger Junge von daheim abhaut, dass er mehrere Tage verschwunden bleibt und dann wieder heimkommt. Nun könnte man erwarten, dass die Fragen nach dem Wie und Warum geklärt werden. Aber Angela Schanelec ist daran nicht interessiert. Ihr Kino ist eines der Auslassungen. Eines, das den Zuschauer extrem fordert. Man sieht die Mutter - brillant gespielt von Maren Eggert - wie sie nach und nach die Fassung verliert. Aber nie wird einem die ganze Story erzählt. Aus diesem sehr anstrengenden Werk flieht man entweder nach wenigen Minuten (die einem wie Stunden vorkommen), oder man bleibt fasziniert sitzen. Eine strittige Jury-Entscheidung. Aber eine, mit der man leben kann.
 
Ein Silberner Löwe für einen knallharten Kinderfilm: Nora Fingscheidt © Berlinale / Hübner

Silberner Bär (Alfred-Bauer-Preis für einen Spielfilm, der neue Perspektiven eröffnet): Nora Fingscheidt („Systemsprenger“) 
Der Preis für die Jungregisseurin Nora Fingscheidt und ihr Kindheits-Drama „Systemsprenger“ ist wohl jene Wahl der Jury, welche die größte Zustimmung bei den Berlinale-Besuchern findet. Der Film fällt geradezu donnernd über das Publikum her. Es geht um eine neunjährige Göre namens Benni (sensationell: die kleine Helena Zengel), die derart wild, gewalttätig und unbeherrscht ist, dass sie nicht nur ihre Mutter, sondern auch alle Betreuer an den Rand der Verzweiflung treibt. Eine Systemsprengerin eben, wie man das im deutschen Erziehungswesen nennt. Der Film schildert, mit welcher Vehemenz Benni in ihrem Jähzorn Menschen und Dinge malträtiert, wenn ihr etwas nicht passt. Natürlich sind ihre Rambo-Aktionen stets auch ein Schrei nach Liebe. Deshalb drückt man der Kleinen und ihren Betreuern stets die Daumen, wenn sie den nächsten Versuch unternehmen, Benni zu zähmen. „Systemsprenger“ ist eine atemlose, ans Herz gehende Spielfilm-Reportage, an deren Ende ein fast unlösbar scheinendes Problem steht: Was soll aus dem Mädchen einmal werden, wenn es erwachsen ist?

Wurde zur besten Schauspielerin der Berlinale gewählt: Yong Mei aus China © Berlinale / Hübner

Silberne Bären für den besten Darsteller und die beste Darstellerin: Wang Jingchun und Yong Mei („So Long, My Son“)
Die in Europa weithin unbekannten Darsteller Wang Jingchun und Yong Mei spielen im Familiendrama „So Long, My Son“ ein chinesisches Elternpaar, dessen kleiner Sohn zu Beginn der Ereignisse bei einem Bade-Unfall ums Leben kommt. Der mit 175 Minuten Spieldauer sehr lange Film von Regisseur Wang Xiaoshuai erzählt nun in verschiedenen Zeitebenen von den (vergeblichen) Versuchen der Eheleute, über ihren Verlust hinwegzukommen. Wobei sich das Private und das Politische verschmelzen: Es geht auch um den gewaltigen Wandel Chinas in den Jahrzehnten von der Kulturrevolution bis zum gnadenlosen Kapitalismus von heute. „So long, My Son“ ist gewiss ein interessantes Werk für Filmfreunde, die einen epischen Erzähl-Stil schätzen. Dass die Jury aber gleich beide Darsteller-Preise an das Drama vergab, ist eine, sagen wir, originelle Entscheidung.

Drehbuchbär: Robert Saviano (l), Claudio Giovannesi, Maurizio Braucci © Berlinale /Ghandtschi

Silberner Bär für das beste Drehbuch: Maurizio Braucci, Claudio Giovannesi & Roberto Saviano ( „Piranhas“)
Der italienische Autor Roberto Saviano wurde 2006 durch sein – später erfolgreich verfilmtes – Mafia-Buch „Gomorrha“ weltbekannt. Auch sein neues Buch „Der Clan der Kinder“, das dem Film „Piranhas“ zugrunde liegt, erzählt eine Mafia-Geschichte – allerdings eine aus der Jugendliga der Clans.  Im Zentrum der Handlung steht eine Clique von 15-jährigen Draufgängern aus Neapel, die in ihrem Stadtviertel die kriminelle Herrschaft über die Straße gewinnen wollen. Um die Altvorderen zu verdrängen, setzen sie automatische Waffen ein und schrecken auch vor Morden nicht zurück. Allerdings haben sie eines nicht bedacht: Wer andere angreift, muss mit Gegenangriffen rechnen.  Die Chancen der Kids für ein langes Leben sind also nicht besonders hoch. „Piranhas“ ist ein beklemmendes Thrillerdrama über eine verlorene Gruppe von Jugendlichen aus Süditalien, denen es an den einfachsten Dingen mangelt (zum Beispiel an der Aussicht auf einen Arbeitsplatz), um Alternativen zur kriminiellen Laufbahn zu finden.

Bester Erstlingsfilm: Mehmet Akif Büyükatalay (Mitte; mit Produzenten) © Berlinale / Ghandtschi

Preis für den besten Erstlingsfilm: Mehmet Akif Büyükatalay („Oray“)
„Oray“, der faszinierende Erstlingsfilm des deutsch-türkischen Regisseurs Mehmet Akif Büyükatalay, liefert ein Beispiel dafür, wie wenig wir die islamische Welt kennen, die sich seit vielen Jahren immer mehr in Europa zu Hause fühlt. Der Plot: Bei einem Streit mit seiner Ehefrau Burcu spricht Titelheld Oray die islamische Scheidungsformel „talaq“ aus. Und zwar – obwohl er sich dessen später nicht mehr sicher ist – drei Mal. Das bedeutet gemäß dem Koran, dass er mit seiner Frau nie wieder verkehren darf. Ansonsten würde er selbst im nächsten Leben in Ungnade fallen. Aber Oray möchte seine Frau gern wieder haben. Anders als bei einem üblichen romantischen Film kämpft der Mann hier nicht nur um die Gunst seiner Herzdame. Er will herausfinden, was ihm der Islam bedeutet. Ein kluger, ein unterhaltsamer Film, der völlig zu Recht ausgezeichnet wurde und dem man viele Zuschauer wünscht.

Die Preisträger

Auszeichnung fürs Lebenswerk: Charlotte Rampling mit Ehrenbär © Berlinale / Hübner

Goldener Bär für den besten Film: „Synonymes“ von Nadav Lapid (Israel)
Goldener Ehrenbär: Charlotte Rampling (Großbritannien)
Silberner Bär (Großer Preis der Jury): „Grace à Dieu“ von Francois Ozon (Frankreich)
Silberner Bär (Alfred-Bauer-Preis für einen Spielfilm, der neue Perspektiven eröffnet): „Systemsprenger“ von Nora Fingscheidt (Deutschland) 
Silberner Bär (Beste Regie): Angela Schanelec für „Ich war zuhause, aber“ (Deutschland)
Silberner Bär (Bester Darsteller): Wang Jingchun für „So Long My Son“ von Wang Xiaoshuai (China)
Silberner Bär (Beste Darstellerin): Yong Mei für „So Long, My Son“ von Marcelo Wang Xiaoshuai (China)
Silberner Bär (Bestes Drehbuch): Maurizio Braucci, Claudio Giovannesi & Roberto Saviano für „Piranhas“ (Italien)
Silberner Bär (für eine herausragende künstlerische Leistung): Rasmus Videbaek (Dänemark), Kameramann von „Out Stealing Horses“ von Hans Petter Moland (Norwegen)
GWFF-Preis für den Besten Erstlingsfilm (dotiert mit 50.000 Euro): „Oray“ von Mehmet Akif Büyükatalay (Deutschland)
Glashütte Dokumentarfilm Preis (dotiert mit 50.000 Euro): „Talking About Trees“ von Suhaib Gasmelbari (Sudan)
Goldener Bär für den besten Kurzfilm: „Umbra“ von Florian Fischer & Johannes Krell (Deutschland)

Preise der unabhängigen Jurys
Preis der ökumenischen Jury
Wettbewerb:
„God Exists, Her Name Is Petrunya“ von Teona Strugar Mitevska (Mazedonien)
Panorama: „Buoyancy“ von Rodd Rathjen (Australien)
Forum: „Erde“ von Nikolaus Geyrhalter (Österreich)

Preis der FIPRESCI-Presse-Jury:
Wettbewerb:
„Synonymes“ von Nadav Lapid (Israel)
Panorama: „Dafne“ von Federico Bondi (Italien)
Forum: „Die Kinder der Toten“ von Kelly Copper & Pavol Liska (USA / Österreich)

Kompass-Perspektive-Preis: „Born In Evin“ von Maryam Zaree (Deutschland / Österreich)