Berlinale 2016

„Miles Ahead“ & „Chi-Raq“: Große Geschichten über Musik, Sex und Gewalt

19.02.2016
von  Gunther Baumann
Regie-Star Spike Lee wurde in Berlin für „Chi-Raq“ gefeiert © Katharina Sartena
Zwei Filme voller Musik zählen zu den absoluten Höhepunkten im Programm der Berlinale 2016. Regisseur Spike Lee nutzt in „Chi-Raq“ Rap und Soul, um eine Story über (und gegen) die mörderischen Bandenkriege in Chicago voranzutreiben. Bei „Miles Ahead“ steht die Musik komplett im Vordergrund. Don Cheadle proträtiert den Jazz-Giganten Miles Davis, wobei er erstmals Regie führt und selbst die Hauptrolle spielt. Den Goldenen Bären hätten beide Filme verdient, doch der blieb unerreichbar: Sie hatten außerhalb des Wettbewerbs Premiere.
Nahezu geniales Porträt eines genialen Musikers: Don Cheadle als Miles Davis © Sony

Miles Ahead

Genre: Musiker-Biografie. Regie: Don Cheadle (USA). Star-Faktor: Hoch (Don Cheadle, Ewan McGregor). Berlinale-Premiere: Berlinale Special Gala.
New York, um 1980. Der Jazz-Megastar Miles Davis hat sich in seinem Haus verbarrikadiert. Nicht nur für ein paar Tage. Seit Jahren ist er von den Konzertbühnen verschwunden. Doch die Szene ist elektrisiert. Das Gerücht geht um, Miles habe heimlich ein neues Album aufgenommen. Seine Plattenfirma Columbia Records, die dem Exzentriker monatlich 20.000 Dollar überweist, ist natürlich höchst interessiert an den Bändern. Und die Presse auch.
Das ist die Grundsituation von „Miles Ahead“, einem Biopic, das sich weit vom Durchschnitt des Genres abhebt. „Miles Ahead“ ist meilenweit voraus.
Don Cheadle, der Star aus „Hotel Ruanda“, konzentriert sich als Autor, Regisseur und Hauptdarsteller auf einen Zeitraum von zwei Tagen, um eine komplette und gelegentlich, im Sinne des Wortes, durchgeknallte Geschichte über Leben und Werk des Ausnahme-Jazzers Miles Davis (1926 - 1991) zu erzählen.
Als roter Faden der Story dient das Gezerre um Miles’ neue Aufnahmen. Die Plattenfirma will die Bänder unbedingt haben. Der Star gibt sie nicht her. Schließlich werden sie ihm im Auftrag eines Produzenten, in dessen Büro etliche Goldene Schallplatten hängen, schlicht geklaut.
Als Miles den Diebstahl spitz kriegt, dreht er durch. Mit Waffengewalt und einem halbseidenen Reporter (Ewan McGregor) als Chauffeur rast er los, um die Tapes wieder zurückzubekommen. Dieser Handlungsstrang, in dem heftig geballert wird, wirkt wie eine grotesk überdrehte Gangster-Saga.



Doch dazwischen, davor und danach geht’s um Musik. Gute Musik, geniale Musik, die den Klang des 20. Jahrhunderts prägte. Man hört Miles mit Bebop, mit Cool Jazz, mit dem Pianisten Gil Evans bei der Aufnahme seiner legendären LP „Sketches of Spain“. Man hört aber auch die elektrische. rockende Musik, mit welcher der späte Miles noch einmal zu neuen Ufern aufbrach.
Obendrein gibt’s den privaten Miles. Den aufbrausenden Macho, den mit Drogen vollgepumpten Exzentriker, den großen Liebenden, der auf ewig seiner Muse und Ex-Ehefrau Frances Taylor nachhängt. Die allerdings hatte er durch seine Untreue und seinen besitzergreifenden Egoismus vertrieben.
Die vielen Bestandteile des Films sind wie eine Komposition ineinander gefügt. So entsteht das atemraubende Porträt eines der größten Musiker der letzten 100 Jahre. Eines Mannes, bei dem man sich oft wundert, welche Diskrepanz besteht zwischen der vollendeten, klangschönen Klarheit der Musik und der selbstzerfleischenden Aggressivität ihres Schöpfers. Don Cheadle spielt all diese Facetten von Miles Davis ganz hinreißend aus.
Kino-Chancen: Bei Jazz- und Musikfreunden ein sicherer Hit. Noch kein Starttermin. Gesamteindruck: Ein nahezu genialer Film über einen genialen Musiker. Besser geht’s nicht.
 
Altgriechische Komödie als Basis für ein grelles Drasma von heute: „Chi-Raq“ © Berlinale

Chi-Raq

Genre: Sozialdrama, Farce, Musik-Komödie. Regie: Spike Lee (USA). Star-Faktor: Hoch (Samuel L. Jackson, Angela Bassett, Wesley Snipes, John Cusack, Jennifer Hudson). Berlinale-Premiere: Außer Konkurrenz.
In Chicago gab es seit der Jahrtausendwende mehr als 7.000 gewaltsame Todesfälle, ausgelöst hauptsächlich durch Bandenkriege der vornehmlich schwarzen Bevölkerung in den Vorstädten. Das sind mehr Tote als bei der US-Armee im Afghanistan- und im Irak-Krieg. Chicago - im Stadtzentrum eine attraktive, pulsierende Metropole - ist Chi-Raq.
Regisseur Spike Lee nimmt diese Tatsache zum Anlass für eine wilde und vehemente Anklage gegen die Gewalt. Für seinen Film „Chi-Raq“ wählte er dabei einen verblüffenden Kunstgriff, der toll aufgeht. Er verlegt die altgriechische Komödie „Lysistrata“ in die Welt von heute.
Beim griechischen Dichter Aristophanes waren es die Frauen von Athen und Sparta, die ihre kriegerischen Männer mit einem Sex-Streik bestraften, bis diese endlich Frieden schlossen. In „Chi-Raq“ wählen nun die Frauen von Chicago die Lustverweigerung, um der Gewalt ein Ende zu setzen. Hier wie dort gehen die Pläne auf - zumindest in der Dichtung.
„Chi-Raq“ ist eine grelle, drastische Groteske, die mit grobem Klotz auf grobe Keile haut. Zwar werden die Dialoge in rhythmischen Reimen gesprochen, doch die Wortwechsel haben (wohl absichtlich) wenig Raffinesse. Sie kommen wie ein einfaches Lehrstück daher, um dem Publikum die Botschaft von der Friedens-Sehnsucht einzubleuen.

„Chi-Raq“ besitzt einen starken Soundtrackvoller Rap, Hip-Hop und Soul © Berlinale

Der Film setzt obendrein auf einen fulminanten Soundtrack, um die Wirkung der Story weiter zu verstärken. Jazz-Star Terence Blanchard, der schon seit 1990 für Spike Lee die Filmmusik macht, wählt coolen Hiphop, brodelnden Rap und gefühlvollen Soul. Die Darsteller bringen die Botschaft des Films mit geradezu inbrünstiger Leidenschaft auf die Leinwand.
Kino-Chancen: Hoch. Noch kein Starttermin. Die Amazon-Produktion ist aber via Amazon Prime bereits im Netz erhältlich. Gesamteindruck: „Chi-Raq“ ist ein wildes, zügelloses Filmkunstwerk, das dem Publikum seine pazifistischen Thesen nur so um die Ohren haut.