Alice Rohrwacher über ihren Viennale-Eröffnungsfilm „Glücklich wie Lazzaro“


„Meine Filme sollen wie Häuser sein“

25.10.2018
Interview:  Gunther Baumann

Rasante Karriere in der Arthaus-Welt: Regisseurin Alice Rohrwacher © ZFF

Ein italienischer Film steht am Beginn der italienischen Ära der Viennale.  Die neue Direktorin Eva Sangiorgi lud Alice Rohrwacher mit ihrem Drama „Glücklich wie Lazzaro“ (Kinostart: 1. November) zur Eröffnungsgala ein. Der stille Film, eine betörende Mischung aus realistischem Sozialdrama und mystischer Kino-Saga, wurde beim Festival Cannes mit dem Preis für das beste Drehbuch ausgezeichnet. FilmClicks traf die Autorin und Regisseurin Alice Rohrwacher zum Interview beim Zurich Film Festival.


FilmClicks: Signora Rohrwacher, was bedeutet Ihnen die Einladung von  „Glücklich wie Lazzaro“ für die Eröffnung der Viennale 2018?
Alice Rohrwacher: Wissen Sie, ich lebe in Orvieto in Umbrien, und dort hält jeden Abend ein Zug, der direkt nach Wien fährt. Ich habe mir schon oft vorgestellt, wie schön es wäre, in den Zug einzusteigen. Nun kann ich mit diesem Zug fahren und in Wien aufwachen – wie wunderbar! Was die Viennale betrifft, habe ich dort schon viele gute Filme gesehen; es ist ein großartiges Festival. Als ich gefragt wurde, ob ich mit meinem Film zur Eröffnung kommen wollte, sagte ich sofort zu. 
 
Wie entstand die Geschichte zu Ihrem „Lazzaro“-Film, der realistische und märchenhafte Elemente vermischt?
Dort, wo ich aufwuchs, habe ich aus der Nähe beobachtet, wie Landarbeiter, die zuvor in sklavenähnlichen Verhältnissen existierten, ihr Leben neu organisierten. Dieses Thema hat mich schon lange für einen Film interessiert. Aber ich fand zunächst keinen Weg, wie ich das umsetzen könnte. Doch dann fiel mir eines Tages die Figur des Lazzaro ein, dieses Zeitreisenden. Und ich dachte mir, durch ihn, durch seine Reisen durch die Zeit, könnte ich den Wandel versinnbildlichen. Die Story aus „Lazzaro“ ließe sich übrigens auch außerhalb Italiens ansiedeln. Überall dort, wo Menschen von der Information über ihre Rechte ferngehalten werden.

„Glücklich wie Lazzaro“: Adriano Tardolo spielt den geheimnisvollen Titelhelden © Filmladen
                               
Wie kamen Sie auf die Idee, durch die Figur des Lazzaro, die dem biblischen Lazarus nachempfunden ist, im Film auch Wunder geschehen zu lassen?
Diese Szenen sind eine Parabel, aber natürlich ist das ein Tanz auf dünnem Seil. Das eröffnet einen Blick auf die reale Geschichte mit Augen, die aus der Zeit gefallen zu sein scheinen. Ich will nicht, dass sich die Zuschauer des Films wie Lazzaro fühlen, aber ich will, dass sie auf Lazzaro schauen und überprüfen, was sie in ihm erkennen. Ich wollte einen Film machen, der eine sehr komplexe Erfahrung ist – so wie das Leben selbst.

Sind Sie in der Filmwelt nicht selbst eine Art Zeitreisende, der kleine Wunder widerfahren? „Glücklich wie Lazzaro“ ist erst Ihr dritter Spielfilm. Doch zwei Ihrer Filme haben Preise in Cannes gewonnen, und in den USA wurden Sie kürzlich in die Academy aufgenommen, die über die Oscars entscheidet.
Das sind sehr schöne Erfahrungen, die mir zeigen, dass es einen Magnetismus gibt zwischen dem Publikum und meiner Art, Filme zu machen. Ich versuche, Filme zu drehen, die wie Häuser sind. In die man eintreten kann, die Fenster öffnen, von Raum zu Raum gehen, um dann eine Zeitlang dort zu leben. Ich bin sehr glücklich darüber, dass meine Filme diese Wirkung erzeugen – aber ich habe das nie geplant. Angefangen habe ich ja mit kleinen Dokumentationen. Schon mein erster Spielfilm wurde dann sehr positiv aufgenommen. Doch ich hätte nie damit gerechnet, dass das alles so schnell geht. 
 
Sie zählen zu den wenigen renommierten Regisseurinnen des internationalen Kinos von heute. Welche Meinung haben Sie zur aktuellen Forderung, die Position der Frauen im Film zu stärken?
Lassen Sie mich etwas vorausschicken: Ich finde es schade, dass diese Frage in der Regel nur Frauen gestellt wird, denn das Thema geht alle etwas an. Wenn wir etwas verändern wollen, müssen wir auf den ersten Sprossen der Leiter beginnen, in den Filmschulen, bei der Ausbildung. Aber natürlich geht es auch darum, tradiertes Verhalten zu verändern: In meinem Land, in Italien, ist es für viele immer noch die Rolle der Frau, daheim zu bleiben, zu kochen und Kinder zu bekommen. Gar nicht so einfach, so eine Tausende Jahre alte Tradition zu überwinden. Das ist ein Prozess; ein wichtiger Prozess, der viel Engagement verlangt.
 
Die Print-Version dieses Interviews erschien in der Viennale-Sonderausgabe des FilmClicks-Partnermagazins Celluloid.



Kritik
Glücklich wie Lazzaro
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