Nadine Labaki über ihren Film „Capernaum“ und das Schicksal der Straßenkinder von Beirut


„Warum schenken mir meine Eltern keine Liebe?“

17.01.2019
Interview:  Peter Beddies

Cannes: Nadine Labaki mit Produzent/Ehemann Khaled Mouzanar und Jungdarsteller Zain Al Rafeea © Katharina Sartena

Die libanesische Schauspielerin und Regisseurin Nadine Labaki, in ihrer Heimat ein Star, drehte mit dem Straßenkinder-Drama „Capernaum – Stadt der Hoffnung“ einen ergreifenden Film, der international Furore macht. Im FilmClicks-Interview berichtet sie über die Hintergründe der Produktion und über den riskanten Dreh in den Slums von Beirut. Und sie nennt ihr Motiv, das Projekt zu realisieren: „Ich wollte diesen Menschen eine Bühne geben. Denn wir schauen viel zu schnell weg, wenn es um das Elend geht.“


FilmClicks: Wie entstand die Idee, mit „Capernaum“ einen Film über die Straßenkinder von Beirut zu drehen?
Nadine Labaki: Es begann in einer wunderschönen Nacht. Ich kam in Beirut von einer Party zurück und musste mit dem Auto an einer Ampel anhalten. Da fiel mir eine Frau auf, die ihr Kind – zwischen ein und zwei Jahre alt – auf dem Schoß hatte und bettelte. Wann immer das Kind, das furchtbar müde aussah, einschlief, wurde es von der Mutter rüde geweckt. Es sollte ja mithelfen, Menschen dazu zu bewegen, ihr Geld zuzustecken. Das war der auslösende Moment. Kennen Sie das Gefühl, wenn man denkt: Jetzt muss ich etwas tun?!
 
Ja. Aber ich kenne auch das Gefühl, dass der Alltag dann wieder beginnt und man zum Tagesgeschehen wieder übergeht.
Genau das habe ich nicht gemacht. Zuerst war ich frustriert und habe gemerkt, dass mich diese Frau mit ihrem Kind mitten in der Nacht inmitten des Straßenlärms nicht mehr loslässt. Da war plötzlich das Bild in meinem Kopf, dass dieses Kind um die Ecke gehen und verschwinden würde. Was würde aus ihm werden? Also habe ich mich gefragt, ob aus dem Gefühl der Ohnmacht irgendetwas entstehen kann. Die Antwort lautete deutlich ja und so habe ich begonnen, zu recherchieren. Bin zu den Kindern und Jugendlichen gegangen, um mit ihnen zu sprechen.
 
Nun sind Sie in Ihrer Heimat Libanon sehr bekannt. Haben Sie erstmal Menschen losgeschickt, die Ihnen Kontakte gemacht haben? Sie selbst wären doch sofort erkannt worden.
Na ja, wenn ich wie in Cannes auf dem Roten Teppich durch diese Viertel Beiruts gelaufen wäre, dann hätte man mich vielleicht erkannt. Ich habe mich dezent gekleidet und bin los. Das Überraschende ist ja, dass man jemanden wie mich dort einfach nicht vermutet. Als ich merkte, dass das funktioniert, habe ich mich auch in Gerichtssäle gesetzt und bin in Gefängnisse gegangen. Niemals stand ich als Person dabei irgendwie im Vordergrund. Ich wollte hinter dem Schicksal dieser Menschen verschwinden, wollte ihnen eine Bühne geben, um von ihrem Elend zu erzählen. Denn wir schauen leider viel zu schnell weg, wenn es ums Elend geht.
 
Wie haben Sie die Menschen dazu gebracht, mit Ihnen zu reden? Das ist ja eine Welt, die recht abgeschottet wirkt.
Es hat sich irgendwann herumgesprochen, dass es da jemanden gibt, der mit jenen Menschen sprechen will, für die sich sonst niemand interessiert. Den Leuten ging es vor allem darum, nicht ausgenutzt zu werden. Und was wahrscheinlich auch eine Rolle gespielt hat: Ich habe jedem Einzelnen, meist zum Ende des Interviews, eine Frage gestellt: „Bist du glücklich, am Leben zu sein?" Und die meisten sagten: „Nein, das bin ich nicht!“ Diese Frage wurde ihnen noch nie ihrem Leben gestellt. Und sie war auch wie eine Art seelischer Türöffner. Denn unmittelbar danach kamen viele Fragen: „Was will das Leben von mir?“ Oder: „Warum schenken mir meine Eltern keine Liebe?“ Bis hin zum Vorwurf, den ich sehr oft von Kindern gehört habe: „Hätten sie mich doch nie in diese Welt gesetzt!“ Daraus entstand dann die Idee, den Film so zu machen, wie ich ihn gemacht habe.

Ein Film, der niemanden kaltlässt: Straßenkinder in „Capernaum“ © Thim

Haben Sie sich während der Monate der Vorbereitung wie eine Dokumentarfilmerin gefühlt?
Ja. Ich musste mir beim Materialsammeln ja überlegen, was ich machen will. Wie ich das abbilden will, das ich in so vielen Hunderten Gesprächen mitbekommen habe. Ich wollte den Menschen eine Stimme geben und dem gerecht werden, was sie umtreibt. Mir ist bei meinen Gesprächen so viel Wut und Ärger und Hass begegnet. Die Menschen haben ja Recht, wenn sie ihr Unverständnis äußern. Aber ich kenne die Lösung des Problems nicht. Ich konnte nur zuhören. Ist es ein Dokumentarfilm? Sicher nicht, weil wir eine Geschichte erzählen. Aber der Film hat auf jeden Fall dokumentarischen Charakter.
 
Gibt es unter den vielen Geschichten, die Sie gehört haben, die eine, die all die Zeit bei Ihnen geblieben ist?
Da könnte ich jede Menge aufzählen. Zum Beispiel die Mutter, die ihre Kinder nur mit Wasser und Zucker ernähren kann. Diese Frau hat mich einmal gefragt, und diese Szene gibt es jetzt im Gerichtssaal im Film: „Glauben Sie wirklich, dass Sie mich verurteilen können? Sie waren nie in meiner Position. Sie wissen nicht, wie sich das anfühlt.“ Aber ich will Ihnen sagen, was mich am meisten sprachlos gemacht hat. Dass viele Mütter - wenn sie schwanger werden - schon wissen, dass sie ihr Kind nicht ernähren können. Sie wissen, dass sie es auf die Straße schicken werden. Warum bekomme ich dann noch ein Kind und noch ein Kind? Das verstehe ich nicht.
 
Die Straßen von Beirut gelten nicht als die sichersten…
…verglichen mit den Städten in Westeuropa ganz bestimmt nicht.
 
Und trotzdem haben Sie „Capernaum“ auf den Straßen von Beirut gedreht.
Das musste ich. Wenn ich die Geschichte dieser Menschen erzählen will, dann muss ich dahin gehen, wo sie leben. Wir waren in den Straßen unterwegs oder in den Gefängnissen, um so wenig wie möglich zu verfälschen. Mit einer kleinen Crew, damit wir kaum auffallen. Bei den Dreharbeiten war ich dann - weil Sie vorhin nach meiner Bekanntheit fragten - schon so getarnt, dass ich kaum sichtbar war. Ich kann nur sagen, dass ich meinem Team sehr dankbar bin. Sie haben alle verrückten Ideen von mir umgesetzt.
 
Verrückt in welchem Sinne?
Zum Beispiel, wenn Zain, unser Hauptheld, von seiner Schwester getrennt wird, weil sie mit elf Jahren verheiratet werden soll, dann sieht man im Film nur, wie er sich dagegen wehrt. Aber einmal ist er auch wie wild hinter seiner Film-Schwester und dem Mofa hinterher gerannt. Das habe ich alles filmen lassen. Wir mit der ganzen Mannschaft hinterher. Durch die Straßen von Beirut. Zum Glück ist dabei nichts passiert. Sie haben völlig Recht. Jederzeit hätte Gewalt ausbrechen können.
 
Die Menschen in Ihrem Film, haben Sie vorhin gesagt, spielen sich selbst. Gab es so etwas wie ein Drehbuch für sie? Mussten sie Text auswendig lernen?
Um Gottes Willen. Das hätte nicht funktioniert. Wir haben über die jeweiligen Szenen gesprochen und dann haben wir gedreht, was gespielt wurde, wie unsere Schauspieler - obwohl ich das Wort Schauspieler für „Capernaum“ nicht mag - mit den jeweiligen Situationen umgegangen sind.
 
Das bedeutet aber, dass Sie viel Zeit für den Dreh einplanen mussten.
Stimmt. Wir waren insgesamt sechs Monate unterwegs und haben über 500 Stunden gedreht. Anders ging es nicht. Unser zweiter Hauptdarsteller Boluwatife Treasure Bankole, der den Yonas spielt, ist im November 2015 geboren. So einem Baby kann ich nicht sagen, wie es spielen soll. Er musste zu unserem Hauptdarsteller Zain Al Rafeea Vertrauen fassen und wir haben alles gefilmt, um nur ja keinen Moment zu verpassen. Manchmal haben wir eine Stunde lang gedreht, um ein Lächeln von ihm zu bekommen. Am Ende hatte ich so viel Material, dass meine erste Version von „Capernaum“ zwölf Stunden lang war. Ich fand sie gut. Aber mir war klar, dass ich noch zehn Stunden rausschneiden musste.
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Es ist schon häufiger passiert, dass Filmemacher Menschen aus ihrem Lebensbereich in einen Film geholt haben. Wie können Sie garantieren, dass Sie diesen Menschen damit nicht schaden?
Indem ich sie unterstütze. Ich habe gar keine andere Wahl, als das zu tun. Diese Menschen sind jetzt Teil meiner Familie. Und wenn Sie meinen, das wäre nur so eine Floskel - ich kann es ganz praktisch machen. Unser Hauptdarsteller Zain hat bisher das Schicksal ganz vieler Kinder im Libanon geteilt. Er hatte keine Papiere, weil die Anmeldung bei der Geburt für arme Menschen zu teuer ist. Wir haben uns für ihn eingesetzt und er hat jetzt seine eigenen Papiere (mittlerweile lebt er mit seiner Familie in Norwegen, Anm.). Von solchen Beispielen gibt es viele. Könnte ich noch mehr tun? Ganz bestimmt. Aber ich hoffe, dass auch dieser Film dazu beitragen wird, dass man auf das Schicksal dieser Kinder aufmerksam wird und nicht länger wegschaut.



Kritik
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