Nora Fingscheidt über ihren Film „Systemsprenger“


„Ich wollte einen Film über ein wütendes Kind drehen“

27.09.2019
Interview:  Peter Beddies

Filmemacherin Nora Fingscheidt: „Gewalt von kleinen Kindern ist ein Hilfeschrei“ © Berlinale / Hübner

Die deutsche Filmemacherin Nora Fingscheidt war im Winter die Senkrecht-Starterin der Berlinale. Ihr furioses Spielfilm-Debüt „Systemsprenger“ hob im Wettbewerb ab wie eine Rakete und ließ ein staunendes Publikum zurück, das sich diese laute, grelle und zutiefst humanistische Story über ein zorniges, nicht zu bändigendes Mädchen bereitwillig um die Ohren schlagen ließ. Jetzt ist das Jugenddrama, das der Regisseurin erst einen Silbernen Bären und später den deutschen Startplatz im Oscar-Rennen einbrachte, im Kino angelaufen. Im FilmClicks-Interview erzählt Nora Fingscheidt über schwierige Kinder, den langen Weg zu ihrem Film und über kleine Parallelen zur ihrer Hauptfigur Benni: „Ich war ein wildes Kind.“ 


Nicht zu bändigen: Helena Zengel als Benni in „Systemsprenger“ © Filmladen

FilmClicks: Frau Fingscheidt, hat Ihr Film „Systemsprenger“ autobiografische Züge? Waren Sie selbst auch so ein unzähmbares Mädchen wie Ihre Protagonistin Benni?

Nora Fingscheidt: Also, ich war ein wildes Kind. Das stimmt schon. Insofern fußt die Geschichte in meiner Kindheit. Aber ich war nicht so wild. Ich kann mich erinnern, dass ich einen Haufen Energie hatte. Bin aber in einem Umfeld aufgewachsen, in dem das aufgefangen wurde. In der Grundschule musste ich oft raus aus dem Klassenraum und draußen stehen und Klinke runter drücken (lacht), damit ich da auf dem Flur nicht noch weiteren Blödsinn mache. Ich wollte schon lange einen Film drehen über ein wildes, aber auch wütendes Kind. Nur der richtige Aufhänger fehlte mir. So gingen die Jahre ins Land.
 
Wann ist Ihnen dann die passende Geschichte über den Weg gelaufen?
Das ist mehr als sechs Jahre her. Ich drehte in Stuttgart in der Frauen-Pension, einem Heim für wohnungslose Frauen, einen Dokumentarfilm. Da zog ein 14-jähriges Mädchen ein. Und ich habe eine der Sozialarbeiterinnen gefragt: „Was macht denn eine 14-Jährige hier?“ Sie meinte nur ganz routiniert: „Ach, Systemsprenger. Die kommen immer an ihrem 14. Geburtstag zu uns. Denn dann dürfen wir sie aufnehmen“. Das war der Moment, in dem ich dachte: „System, was? Was ist das denn bitte? Noch nie gehört!“
 
Systemsprenger ist ein Wort, das eigentümlich klingt, oder?
Ja, auf jeden Fall. Es hat eine starke Energie. Ich hatte es noch nie gehört und so habe ich begonnen, zu recherchieren. Und mit jeder Recherche eröffnete sich eine mir völlig unbekannte Welt. Von Wohngruppen, Kinder-Psychiatrien, In-Obhutnahme-Stellen. Da wusste ich, dass ich darüber einen Spielfilm machen muss. In der Fachwelt wird der Begriff Systemsprenger übrigens ungern verwendet, weil er den Kern der Sache nicht ganz trifft.
 
Wieso?
Weil es nicht um ein Kind geht, das ein gutes, bestehendes System kaputtmacht. Sondern es geht um scheiternde Systemprozesse, die dazu führen, dass das Kind keinen Ort findet, an dem es bleiben kann. Was aber schon Tabus sind – zumindest für mich – das sind die einzelnen Institutionen. Also das Phänomen Kinder-Jugend-Psychiatrie zum Beispiel.
 
Warum ist das ein Tabu?
Weil viele Menschen die Begriffe Psychiatrie auf der einen Seite und Kinder sowie Jugendliche auf der anderen Seite nicht zusammenbringen. Denn Kinder sollen doch glücklich sein und herumspringen. Und Psychiatrie, das ist doch für die depressiven oder verrückten Erwachsenen. Aber es gibt in jeder größeren Stadt Kinder- und Jugend-Psychiatrien. Die sind alle rammelvoll – mit Warteliste. Und das wird nicht gesehen. Genau wie viele Menschen nicht mehr wissen, dass es heute noch Kinderheime gibt. Die heißen jetzt zwar Wohngruppen und das ist auch gut so und sie funktionieren auch anders als früher. Aber es ist ein Fakt, dass es sie gibt.
 
Haben Sie bei Ihren Recherchen feststellen können, was bei diesen Kindern – aus unserer Sicht – falsch läuft? Sind es Synapsen, die nicht so funktionieren, wie sie sollten? Um es mal ganz einfach auszudrücken.
Die einfache Erklärung kann es nicht geben. Denn kein Systemsprenger gleicht dem anderen. Man muss wirklich jeden Fall individuell betrachten. Und genau schauen, was das einzelne Kind braucht, um sich in ein bestehendes System einzufügen. Das große Problem mit den Systemsprengern ist, dass man nun fragt: „Was können wir mit ihnen allen machen?“ Aber nicht alle Systemsprenger passen in ein Raster.
 
Gibt es da Lösungen in der Praxis? Das klingt nach einem enormen Aufwand.
Ja, aber genau der ist hier angebracht. Es gibt Institutionen, die zum Beispiel nur drei solcher Kinder aufnehmen, um sich genau anzuschauen, was man mit ihnen tun kann. Denn die Systemsprenger sind oft schwer traumatisierte Kinder mit einer sehr harten Geschichte. Aber auch diese Hintergründe sind extrem unterschiedlich. Und Benni aus meinem Film ist eben auch ein sehr spezieller Fall.
 
Der Film hat bei der Berlinale für sehr viel Aufsehen gesorgt. Jetzt kommt er in die Kinos. Was würden Sie sich wünschen, wie die Gesellschaft reagiert?
Was ich mir wünsche? Dass die Menschen, die den Film schauen, hinterher einen etwas anderen Blick auf aggressive Kinder haben. Denn Gewalt von kleinen Kindern – und auch später noch – ist eigentlich ein Hilfeschrei. Es ist ein Zeichen für: „Hallo, in meiner Welt ist etwas nicht in Ordnung!“ Die meisten Menschen wollen die anderen Kinder schützen. Ich möchte auch nicht, dass mein kleiner Sohn verprügelt wird. Aber das aggressive Kind aus der Schule oder aus dem Kindergarten zu schmeißen, um das Problem kurzzeitig zu lösen, das ist keine wirkliche Lösung für das aggressive Kind selber. Denn diese Kinder bekommen dann das Gefühl: „Aha, da passe ich auch nicht rein!“ Dann gibt es erste Ermahnungen und Einträge. So kommen manche Kinder schon in die erste Klasse mit einer dicken Akte. Sie sind dann schon gebrandmarkt und so zieht sich das weiter. Das Einzige, was hilft: man muss hinschauen und sich fragen, „Warum ist dieses Kind so aggressiv? Wie könnte man es besser integrieren?“

Nora Fingscheidt mit ihren Darstellern Helena Zengel und Albrecht Schuch © Martin Kraft / Wiki

Wussten Sie schon im Vorfeld der Produktion, dass Ihnen nur dann ein überzeugender Appell für diese Gruppe von Menschen gelingen  würde, wenn Sie eine perfekte Systemsprengerin für die Hauptrolle finden?
Auf jeden Fall. Helena Zengel ist zehn Jahre alt. Sie war neun, als wir den Film gedreht haben. Also genau so alt wie Benni im Film.
 
Wo haben Sie dieses Energiebündel gefunden, das einen im Film so schwer beeindruckt?
Helena war die Nummer 7 im Casting. Und das war natürlich Wahnsinn. Ich hatte so lange an diesem Buch geschrieben. Im Prinzip niemals damit gerechnet, eine Darstellerin zu finden, die perfekt passen würde. Dann kam Helena und ich dachte: „Nee, ich muss jetzt weitersuchen. So schnell kann das nicht gehen!“ Dann habe ich weitere 150 Mädchen gecastet. Aber irgendwann war klar, dass ich mal aufhören muss, weil ich immer wieder an Helena zurückgedacht habe. In allen anderen hatte ich die Vielschichtigkeit gesucht, die nur Helena hatte. Die diese Gewalt mit einer Not und Verletzlichkeit koppeln konnte, einer Fragilität. Bei ihr war das immer ein existenzielles Drama und nicht bloß eine verwöhnte aufmüpfige Göre, die randalieren will.
 
Eigentlich denken und hoffen wir als Erwachsene, dass neunjährige Kinder noch pur und unschuldig sind. Aber Helena erschreckt einen auf der Leinwand. Wissen Sie, wo sie das herholt?
Ich glaube, das ist ihr riesengroßes Talent, dass sie das so spielen kann. Natürlich hat das auch mit einer sehr langen und ausführlichen Vorbereitung zu tun.
 
Was haben Sie ihr gesagt, warum sie in manchen Szenen so ausrastet? Wenn sie zum Beispiel mit Spielzeugen wütend um sich wirft?
Es geht halt immer um die einzelne Szene. In der habe ich ihr gesagt, dass sie darauf achten soll, wie die anderen Kinder auf dem Hof mit ihr umgehen.  Ich würde selbst auch wütend werden, wenn man mich so behandelt. Also habe ich Helena versucht zu helfen, in diese Situationen zu kommen. Die Wut noch zu steigern, bis sie extremes Maß hat. Was man nicht vergessen darf, auch wenn das jetzt extrem aussieht; es macht ja auch Spaß, so etwas zu spielen. Und wissen Sie, was mich dann immer so beeindruckt? Diese wunderbare Leichtigkeit der Kinder. In dem einen Moment liegt sie festgeschnallt auf einer Liege. Dann gibt es fünf Minuten Pause und sie springt singend durch den Flur. Das ist für erwachsene Schauspieler viel schwieriger. Viele bleiben in den Pausen lieber im Charakter. Völlig klar: Erwachsene denken einfach zu viel (lacht).
 
„Systemsprenger“ ist kein leichter Film. Das war Ihnen sicher von Anfang an klar. Welche Reaktionen bekommen Sie jetzt, wenn Sie den Film bei Premieren mit Publikum sehen?
Das ist echt berührend. Die Energie, die wir in den Film gesteckt haben und die er aufs Publikum haben soll, kommt jetzt in der einen oder anderen Form zu uns zurück. Dieser Film macht was mit den Leuten! Mir geht es auch gar nicht darum, dass jeder den Film mögen muss. Aber ich wünsche mir, dass er den einen oder den anderen Zuschauer berührt. Deshalb kann ich jetzt auch gut loslassen und sagen: „Nach diesen ganzen Jahren ist das Baby auf der Welt und muss nun laufen lernen!“
 
Dieses Interview erschien in gedruckter Form auch im FilmClicks-Partner-Filmmagazin Celluloid.



Kritik
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