Olivier Assayas


Ein Gefühl für die wilde Zeit

31.05.2013
Interview:  Matthias Greuling

Olivier Assayas über die Siebziger Jahre: „Alle erträumten sich eine bessere Welt" © Polyfilm

In „Die wilde Zeit“, einer Geschichte über das Studentenleben im Paris der 70er Jahre, lässt Olivier Assayas seine eigene Jugendzeit Revue passieren. Er erzählt von Studenten, die zwischen idealistisch motivierten Straßenkämpfen und egoistisch formulierten Selbstverwirklichungs-Träumen hin- und hergerissen sind. FilmClicks traf Regisseur Assayas zum Gespräch in Venedig.


Monsieur Assayas, „Die wilde Zeit“ legt bewusst den Fokus weg von der 68er-Generation, hin zu den 70ern, in denen Demos bei der Jugend sehr in Mode waren. Wieso?
Assayas: Die 70er waren eine Zeit, in der man so ziemlich alles ausprobiert hat, was möglich ist. Das hat es zuvor und auch danach nie mehr gegeben. Ich schildere die sehr naiven Träume junger Menschen von damals, wie ich auch einer war. Alle erträumten sich eine bessere Welt und dachten, dass sie wirklich etwas verändern könnten. Erst in den 80ern wurden sie alle brutal in die Realität zurückgeholt.
 
Sie haben wiederholt betont, „Die wilde Zeit“ sei auch Ihre persönliche Geschichte. Inwieweit?
Es ist mein persönlichster Film bisher. Aber ich glaube nicht an ein autobiografisches Kino, und nicht alles, was man im Film sieht, ist tatsächlich passiert. Was mir wichtiger war, ist, eine gewisse Stimmung der 70er Jahre, so wie ich sie erlebt habe, einzufangen. Das beginnt ja bei den Drehorten, beim Dekor und den Autos. Auch bei der Kleidung, ja sogar bei den Flugzetteln, die wir damals von Hand druckten. Oder die Plattencover von damals. Das sind alles Dinge, die meine Generation definiert haben. Nach meinem Film „Carlos“ (2010) über den gleichnamigen Terroristen, der ja auch in den 70er Jahren spielt, hatte ich das Gefühl, diese Zeit nicht nur aus politischer, sondern auch aus persönlicher Sicht wiedergeben zu müssen.
 
Die Stimmung haben Sie optisch und atmosphärisch auf ganz wunderbare Weise  rekonstruiert. Wie genau war das im Drehbuch ausformuliert?
Nicht sehr genua. Ich bin ein knapp formulierender Drehbuchschreiber. Denn wenn ich da alles reinschreiben würde, was ich mir denke, würde mich das später beim Drehen einengen. Ich mag es lieber, wenn ich die Geschichte nach dem Schreiben am Set noch weiterentwickeln kann. Bis zu einem gewissen Grad muss man natürlich vorplanen, wegen der Geldgeber und auch wegen der Schauspieler, die das Drehbuch ja als Arbeitsunterlage brauchen. Aber die visuelle Gestaltung lasse ich mir völlig offen, um den Stoff ständig überarbeiten und verbessern zu können.

„Die wilde Zeit". Assayas: „Im Vordergrund stand immer die Sache, für die gekämpft wurde" © Polyfilm

 
Im Film geht es auch um Liebe und sexuelle Erfahrungen, dennoch scheinen diese Dinge anders als noch bei den 68ern eine Nebenrolle zu spielen.
Damals in dem Alter fühlte es sich normal an, sich eher politisch oder künstlerisch zu engagieren als emotional. Ich erinnere mich, dass ich stets ein Beobachter der sexuellen Revolution der 60er war. Damals war das „Ich“ in einer Liebesaffäre nicht sehr bedeutend. In heutigen Filmen sind Jugendliche oft fanatisch obsessiv, wenn es um Sex geht; sie sind getrieben von Lust – solche Porträts finde ich grotesk. Die 70er brachten sicher ein Freiheitsdenken in sexueller Hinsicht, vor allem, weil Sex bis dahin kaum diskutiert wurde. Aber im Vordergrund stand nie der Sex, sondern immer die Sache, für die gerade gekämpft wurde. Die eigenen Emotionen waren sicher nicht das Zentrum der Welt.


Die Printversion dieses Interviews ist in unserem Partner-Magazin celluloid" (Ausgabe 3/2013) erschienen.
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