Richard Linklater , Ellar Coltrane


Zwölf Jahre Drehzeit: „Der Film war ein Vertrauensvorschuss in die Zukunft“

05.06.2014
Interview:  Anna Wollner

Richard Linklater: Der Texaner schuf mit „Boyhood“ ein Meisterwerk © Starpix / Sartena

Richard Linklater: Von Quentin Tarantino wurde der Texaner kürzlich in Cannes zu „einem der zwei aufregendsten Filmemacher der Gegenwart“ erhoben (der zweite ist David Fincher). Ab sofort kann man im Kino nachprüfen, was Tarantino meint. „Boyhood“ läuft an – ein tollkühner und mitreißender Film. Die Drehzeit betrug zwölf Jahre. Linklater holte sein Ensemble um Ethan Hawke, Patricia Arquette und den jungen Ellar Coltrane Jahr für Jahr für ein paar Tage vor die Kamera. So entstand die fesselnde Geschichte einer Jugend, die einen Knaben durch seine gesamte Schulzeit begleitet. „Boyhood“ hatte im Februar bei der Berlinale Europapremiere und wurde frenetisch gefeiert. Dass der Film im Wettbewerb dann nur den Regiepreis gewann, war grotesk. Denn „Boyhood“ schreibt Filmgeschichte. Doch wer erinnert sich noch an den chinesischen Thriller „Black Coal, Thin Ice“, den Gewinner des Goldenen Bären?


„Boyhood“: Das Abenteuer beginnt. Der kleine Ellar Coltrane mit Film-Vater Ethan Hawke © Universal

Mister Linklater, als Sie Anfang der 2000er Ihr Projekt „Boyhood“ bei den Studios vorstellten, wie waren die ersten Reaktionen?

Richard Linklater: Jeder hat gesagt: „Was für eine tolle Idee. Aber wir verstehen nicht, wie wir da helfen können.“ Die Betonung lag auf Idee. Die Finanzierung war alles andere als einfach.
 
War „Boyhood“ von Anfang an auf eine Drehzeit von zwölf Jahren angelegt?
Linklater: Ja. In Amerika muss jedes Kind von der ersten bis zur zwölften Klasse zur Schule gehen. Das ist verpflichtend. Als ich damals in dem Alter war, habe ich mich wie im Gefängnis gefühlt. Du wohnst bei deinen Eltern, kommst nicht weg. Die Zeitspanne von zwölf Jahren war für unser Vorhaben ideal.
 
Bei so einer langen Produktionszeit müssen Sie eine Engelsgeduld haben.
Linklater: Ja, ich bin unglaublich geduldig. Das ist wohl offensichtlich.  Für mich geht es in Filmen immer um das Story-Telling, das Erzählen von Geschichten. Das Kino hat ein sehr ambivalentes Verhältnis zur Zeit. Ich versuche immer, die Zeit schon als Grundlage in meine Geschichten einzubeziehen.
 
Wie riskant war es damals, für die Titelrolle in „Boyhood“ den sechsjährigen Ellar Coltrane zu engagieren – ohne zu wissen, wie sich der Junge entwickelt?
Linklater: Der ganze Film war ein Vertrauensvorschuss in die Zukunft. Ich wollte schon im Entstehungsprozess ein Projekt schaffen, zu dem jeder Beteiligte jedes Jahr gerne zurückkommt. Vor allem die Schauspieler. Ein juristisches Hindernis dabei: Man kann in den USA niemanden legal für zwölf Jahre verpflichten. Sieben-Jahres-Verträge sind in Ordnung - aber zwölf? Nein. Es war also eine Gratwanderung,  ein Kind für 12 Jahre zu binden. Meine eigene Tochter Lorelei spielt in „Boyhood“ mit, da hatte ich wenigstens ein bisschen Einfluss. Aber wenn Ellar Coltrane eines Tages hätte aussteigen wollen, hätte ich ihn nicht zum Bleiben zwingen können.

Zwölf Jahre nach Drehbeginn: Ellar Coltrane heute © Starpix / Sartena

Ellar, haben Sie jemals mit dem Gedanken gespielt, auszusteigen?
Ellar Coltrane: Nein. Das ganze Team war für mich wie eine zweite Familie. Teil dieses künstlerischen Prozesses zu sein, war für mich großartig. Um ehrlich zu sein, wollte ich nie, dass es eines Tages aufhört.
 
Wie schwer ist Ihnen das Schauspielen über die Jahre gefallen?
Coltrane: Um ehrlich zu sein, bin ich da ja einfach reingeraten. Als hätte die Welt gewollt, dass ich eines Tages Schauspieler werde. Ich hatte nie eine romantisch verklärte Vorstellung von diesem Beruf, er hat mich ja fast mein ganzes Leben lang begleitet. Es war keine Liebe auf den ersten Blick. Eher ein schleichender Prozess.
 
Hat sich Ihr Zugang zur Rolle des jungen Mason im Lauf der Zeit verändert?
Coltrane: Zu Beginn, als ich noch klein war, musste ich mehr spielen als später. Da war es weniger natürlich. Ich habe dann irgendwann angefangen, mich an der Entwicklung meiner Figur zu beteiligen, ich habe mit an den Dialogen gefeilt und natürlich Ellar meine eigenen Worte in den Mund gelegt.
 
Kein anderer Teenager kann von sich sagen, in einem knapp dreistündigen Kinofilm seine eigene Kindheit an sich vorbeiziehen sehen. Ist Ihnen der Film heute in manchen Sequenzen peinlich?
Coltrane: Nicht peinlich – er ist eher entlarvend. Es gibt Phasen in meinem Leben, in denen es mir weniger bewusst war, wie ich wirkte, als in anderen. Es ist interessant, mich in diesen Episoden selbst zu sehen. Mir war nicht klar, wie ich zu den Zeitpunkten wirklich aussah oder wie ich mich gegeben habe. Allein meine Frisuren!
 



Kritik
Boyhood
Richard Linklater brauchte zwölf Jahre, um „Boyhood“ zu vollenden: Der Film begleitet einen Jungen (Ellar Coltrane) von der Kindheit bis an die Schwelle zum Erwachsensein. Das Resultat ist überwältigend. Mehr...