Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Wenn die Heimat zur Fremde wird


FilmClicks:
Flucht nach Zürich: Arthur Kemper (Oliver Masucci) begrüßt seine Frau (Carla Juri) und die Kinder © Warner Bros.
GESAMTEINDRUCK: Caroline Links Drama „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“, basierend auf dem berühmten Jugendbuch von Judith Kerr, ist die ungemein berührende Geschichte einer Flucht vor den Nazis, erzählt aus dem Blickwinkel eines neunjährigen Mädchens.
 
DIE STORY:  Berlin 1933. Der jüdische Journalist und Nazi-Gegner Arthur Kemper (Oliver Masucci), einer der führenden Theaterkritiker Deutschlands, emigriert kurz vor der Machtergreifung Hitlers in die Schweiz. Seine Frau Dorothea (Carla Juri) folgt wenig später mit den zwei Kindern, wobei Tochter Anna (Riva Krymalovski) ihr geliebtes Stoffkaninchen in Berlin zurücklassen muss. Die Hoffnung, dass der Hitler-Spuk in Deutschland bald ein Ende haben könnte, zerbricht. Die Kempers werden zur Flüchtlingsfamilie. Ihr Weg führt von der Schweiz über Frankreich nach England. Geldsorgen, Sprachprobleme, Heimweh und das Gefühl, Außenseiter zu sein, gehören zu ihrem Alltag.

In der Fremde: Anna (Riva Krymalovski) als Schülerin in Paris © Warner

DIE STARS: Die Münchner Autorin und Regisseurin Caroline Link, die 2003 für „Nirgendwo in Afrika“ einen Oscar gewann, drehte 2018 mit der Hape-Kerkeling-Kindheitsgeschichte „Der Junge  muss an die frische Luft“ den erfolgreichsten deutschen Film des Jahres. Auch in „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ beweist sie wieder ihr Gespür, außergewöhnlich begabte Kinderdarsteller zu entdecken und zu führen: Die Newcomerin Riva Krymalovski – geboren in Zürich, aufgewachsen in Berlin – gestaltet die zentrale Rolle der neunjährigen Anna souverän.
Der Stuttgarter Oliver Masucci, lange am Wiener Burgtheater engagiert, spielt den Familienvater und Journalisten, der vor der Verfolgung aus Hitler-Deutschland fliehen muss. Bemerkenswert: In der Nazi-Groteske „Er ist wieder da“ war Masucci 2015 als Adolf Hitler zu sehen.
Die Schweizerin Carla Juri (Dorothea Kemper) wurde 2013 mit der Hauptrolle in der Charlotte-Roche-Verfilmung „Feuchtgebiete“ bekannt.

Sorgenvolle Gespräche über Deutschland: Justus von Dohnányi und Oliver Masucci © Warner

DIE KRITIK: „Als Flüchtling muss man eben oft Abschied nehmen“, sagt die kleine Anna mit aller Weisheit eines Kindes, als wieder einmal alle Koffer gepackt sind. Gleich wird sie noch einmal Fassaden streicheln: „Auf Wiedersehen, du gutes altes Haus! Auf Wiederluege, ihr engen Gassen!“ Und dann geht es los, einer ungewissen Zukunft entgegen, in der man dankbar dafür sein muss, in Frieden leben zu können, auch wenn die Sprache und die Menschen am neuen Ort fremd sind.
Die Verfilmung von Judith Kerrs Kindheitserinnerungen „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ ist ein kraftvoll und sensibel inszeniertes Drama. Zunächst einmal geht’s natürlich um die Zeitenwende 1933, als die Deutschen durch die Hinwendung zu Hitler „von allen guten Geistern verlassen“ waren, wie es im Dialog einmal heißt.
Für die neunjährige Anna, das Alter Ego der Autorin Judith Kerr, hat diese Wende natürlich noch keine politische Dimension (auch wenn sie sich mal vor dämlichen Nazi-Buben verstecken muss). Sie bemerkt den Wandel an Tränen der Mutter, an der überhasteten Abreise des Vaters und am ersten großen Abschied – als sie das Haus und wichtige Menschen ihrer Kindheit verlassen muss.
Wenn die großbürgerlichen Kempers dann später auf der Flucht von der Armut eingeholt werden, wenn es für die Eltern keine Arbeit und für die Kinder Schulprobleme gibt, dann versteht man den Satz „Niemand flieht freiwillig“ in seiner ganzen, auch heute gültigen Dimension. Von Zukunftssorgen und gleichzeitig von Heimweh geplagt zu werden, während der Alltag ökonomisch zum Überlebenskampf in einer fremden Welt wird: Das ist kein Geschick, das Menschen vorsätzlich auf sich nehmen. Sondern nur aus großer Not.
Caroline Link erzählt diese Geschichte nicht als sentimentales Rührstück, sondern als Abbild von Lebensläufen, in denen auch Humor und Aufbruchsstimmung ihren Platz haben. Stellt die wohlbehütete Anna anfangs etwa noch leicht beunruhigt fest, „alle berühmten Menschen hatten eine schwere Jugend“, so nimmt sie später wohlwollend zur Kenntnis, dass sie als ewige Reisende nun selbst zur Besitzerin einer solchen geworden sei. Was ihre Aussicht auf späteren Ruhm erhöhen könnte (die Bücher der Autorin Judith Kerr erreichten dann Millionen-Auflagen).
Annas Kritiker-Vater (die legendären Rezensionen von Alfred Kerr sind bis heute in Buchform erhältlich) bemüht sich immer wieder,  seinen Kindern klarzumachen, dass in der Heimatlosigkeit auch Chancen liegen: „Wenn ihr weiterhin nur von Deutschland träumt, dann werdet ihr viele wundervolle Sachen verpassen“.
Obwohl „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ prallvoll mit dramatischen Situationen gefüllt ist,  fehlt dem Werk der große dramaturgische Spannungsbogen, der für die meisten Filme typisch ist. Das liegt wohl an der Buchvorlage: Die Erzählung von Judith Kerr ist eher ein Stationendrama, das viele kleine Geschichten erzählt.
Mit dieser Struktur schafft es der Film locker, sein Publikum von der ersten bis zur letzten Minute zu fesseln. Dank der packenden Themen. Dank des zupackenden Inszenierungsstils von Caroline Link, die das ernste Spiel immer wieder mit Humor und Zuversicht auflockert. Und Dank eines wunderbaren, bis in die kleinen Rollen brillant besetzten Ensembles, in dem die junge Riva Krymalovski als prima inter pares für großes Kino sorgt.
 
IDEAL FÜR: FreundInnen bewegender Kinodramen – und für die Lesergemeinde von „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“.






Trailer
LÄNGE: 119 min
PRODUKTION: Deutschland / Schweiz 2019
KINOSTART Ö: 25.12.2019
REGIE:  Caroline Link
GENRE: Biografie|Drama
ALTERSFREIGABE: ab 6


BESETZUNG
Riva Krymalowski: Anna Kemper
Marinus Hohmann: Max Kemper
Carla Juri: Dorothea Kemper
Oliver Masucci: Arthur Kemper
Justus von Dohnányi: Onkel Julius
Ursula Werner: Heimpi